Die Berichterstattung über die Piratenpartei läuft an vielen, vielen Fronten, es geht nicht nur um Bräunliches. Sportwettenwerbung im TV ist zwar illegal, but who cares? Und Helmut Thoma empfiehlt der ARD eine Ü-60-Version von „Rote Rosen“.
Während der Lektüre eines Buchs live zu bloggen, gehört möglicherweise zu den noch nicht etablierten Möglichkeiten des digitalen Journalismus. Beim Guardian hat man sich am Donnerstag dafür entschieden, weil man im vom Labour-Politiker Tom Watson gemeinsam mit einem Journalisten verfasste Buch „Dial M for Murdoch. News Corporation and the Corruption of Britain“ „einige sensationelle Enthüllungen“ über die Machenschaft im Murdoch-Imperium ausgemacht hatte. Rupert Murdoch, das ist - für Altpapier-Erstleser, die der in diesem Theater gerade stattfindende singuläre Relaunch in progress hierher gelockt hat, sei es gesagt - dieser nette alte Herr, der die Berater von Fußballprofis glücklich macht (siehe hier, unmittelbar vorm Altpapierkorb, oder gestern in der SZ, ebenfalls weit unten). Und Tom Watson ist der Mann, der in Großbritannien bekannt und unter hiesigen Medienjournalisten möglicherweise annähernd semibekannt wurde, als er James Murdoch, den Sohn des Herrscher, im November, als dieser noch Vorstandschef der Zeitungsgruppe News International war, im Untersuchungsausschuss des Unterhauses vorhielt: „Sie müssen der erste Mafia-Boss der Geschichte sein, der nicht weiß, dass er eine kriminelle Organisation führt.“ Murdoch junior hatte vorher dargelegt, von den dubiosen Praktiken bei seinen Blättern (die SZ hat die Gemengelage am vergangenen Wochenende mal zusammengefasst) nichts gewusst zu haben.
Ob sich die vom Guardian nun erprobte Form des Während-der-Lektüre-Bloggens auch bei der Berichterstattung über andere irgendwie brisante Bücher durchsetzt, wissen wir natürlich nicht. Das Erscheinen des Watson-Buchs kommt im übrigen gerade rechtzeitig, angesichts dessen, dass Vater und Sohn Murdoch sich in der kommenden Woche entscheidenden Verhören werden stellen müssen. Schon jetzt in einer misslichen Lage stecken laut SZ drei Werktätigen aus dem Murdoch-Imperium: Sie wurden verhaftet - womit sich die Zahl der im Zuge der verschiedenen Murdoch-Skandale verhafteten Menschen auf 26 erhöht, wie die SZ mit Berufung auf, natürlich, den Guardian erwähnt.
Ganz große Murdoch-Fans sind bestimmt die FC-Bayern-Granden Karl Hopfner, Ulrich Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge, der angesichts des neuen Deals mit Murdochs Sky gerade von einem „Meilenstein" sprach (siehe wiederum Altpapier). Vermutlich lesen sie, wie alle anderen maßgeblichen Fußballmanager, in Deutschland nicht den Guardian. Es sind jedenfalls drei edle Ehrenmänner - weshalb man es, wenn man denn will, durchaus überraschend finden kann, dass das Trio in einem TV-Werbespot für die Sportwettenfirma bwin mitwirkt. Schließlich ist Sportwettenwerbung im Fernsehen in Deutschland nicht erlaubt. Aber das interessiert kein Schwein - jedenfalls nicht Wettanbieter und auch nicht Sport 1, Sat 1, Kabel 1, Pro Sieben und Sky, wie Volker Nünning in der Funkkorrespondenz berichtet. In seinem Leitartikel gibt er einen Überblick über die laufenden Gerichtsverfahren und einen Einblick in eine bwin-Reklamesendung bei Sport 1. Und was in dem erwähnten Spot mit den Bayern passiert, erfahren wir auch:
„Hopfner, im Verein der Mann im Hintergrund, ragt in dem Spot heraus und wirkt im ‚Men-in-Black‘-Outfit mit aufgesetzter Sonnenbrille wie ein Wettpate. Die Off-Stimme fordert die Fernsehzuschauer auf: ‚Zeigen Sie uns, was Sie draufhaben! Willkommen in der größten Sportwetten-Arena der Welt. Bwin.‘“
[+++] Sportliches dominiert heute auch die FAZ-Medienseite: Am meisten Platz räumt die alte Avantgarde-Tante nicht einem profanen Medienthema ein, sondern der Snooker-WM, über die Eurosport ab Samstag „mehrmals täglich live“ berichtet:
„Snooker, jenes Billard-Ballett aus zu Beginn fünfzehn roten und sechs andersfarbigen Kugeln sowie einem sie choreographierenden weißen Spielball, hatte in Deutschland weder eine Tradition noch gar einen auch nur halbwegs passablen Spieler. (...) Die Regeln schienen hochkompliziert – und als Fernsehformat gab diesem Sport schon ob seiner unkalkulierbaren, von keinem Zeitlimit begrenzten Spieldauer kaum jemand eine Chance. Eurosport hat sie genutzt. Inzwischen versammeln sich zu den Höhepunkten der Snooker-Saison im Fernsehen allein in Deutschland bis zu eine Million Zuschauer. Und weil Rolf Kalb, die Reporterlegende von Eurosport, seit ebenfalls mehr als einem Jahrzehnt nicht müde wird, Snooker stets aufs Neue publikumsnah zu erklären und zu erhellen, haben die Übertragungen ihrerseits längst Kultstatus erreicht.“
Ganz überraschend kommt Jochen Hiebers Artikel aber nicht, denn den Autor hat schon häufiger Würdigungen der Sportart und des Herrn Kalb zum Besten gegeben (hier und hier).
[+++] Kaum noch zu überschauen ist die Berichterstattung über die Piratenpartei: Für die Zeitung analyse + kritik (ak), deren Vorgänger Arbeiterkampf hieß, analysiert und kritisiert in Sachen Piraten die Schriftstellerin Katja Kullmann, und das ist, nebenbei (und gar nicht mal ironisch) bemerkt, natürlich ein Fortschritt für eine Autorin, die früher mal Ressortchefin bei der Petra war:
„Man muss die PiratInnen entzaubern beziehungsweise entdämonisieren, um sie zu verstehen. Weder sind sie RebellInnen noch BlenderInnen. Weder sind sie wild, noch lügen sie. Strategische Schärfe ist von ihnen nicht zu erwarten, sie sind nicht intellektuell, eher kaufmännisch gepolt.“
Mit den Piraten melde sich „das next Oben zu Wort, das mutmaßliche Establishment von Morgen“, meint Kullmann. Auf einer ganzen Seite im FAZ-Feuilleton fragt der TV-Regisseur und Drehbuchautor Nikki Stein:
„Warum eigentlich hat sich diese neue, junge Partei so auf uns Urheber eingeschossen? Warum bekämpfen die Netzaktivisten nicht die Netzmonopolisten Apple, Google, Facebook und Amazon.“
Kann man fragen. Die Antwort ist allerdings auch nahe liegend: Weil die Piraten sich als „das next Oben“ verstehen, um es mit Kullmann zu sagen. Oder hat schon mal jemand gefragt, warum die FDP der Partei der Zahnärzte ist und nicht jener, die sich keinen Zahnersatz leisten können? In der Zeit findet man derweil ein Porträt des „Internetpioniers“ bzw. digitalen Gesellschaftskönigs Sascha Lobo, der „Konkurrenz durch die Piratenpartei“ bekomme. Man muss nun wahrlich nicht Mitglied in einem Lobo-Fanclub sein, um zu konstatieren, dass das Hamburger Wochenblatt ihm da Unrecht tut.
[+++] Tagesaktuell geht es in Sachen Piraten natürlich um die Rücktrittsforderungen an den Berliner Landesvorsitzenden Hartmut Semken, der kürzlich zu verstehen gegeben hatte, nicht die Nazis in der Partei seien das Problem, sondern die Nazigegner, und jetzt das sattsam bekannte Tut-mir-leid-war-nicht-so-gemeint-Lied singt. Wobei zu betonen wäre, dass er zu den inkriminierten Äußerungen nicht von den Christoph Lütgerts dieser Welt gedrängt wurde. Vielmehr hat Semken sie in seinem Blog niedergeschrieben. Unter anderem die SZ, die taz, die Berliner Zeitung und der Tagesspiegel äußern sich zur Sache.
Putzig ist ist die von der Berliner Zeitung zitierte Einschätzung Semkens, unter den 2700 Mitgliedern den Berliner Piratenpartei seien
„vermutlich zehn Prozent ‚Spinner‘ und ‚20 bis 30‘ Rechtsorientierte“.
Da würde man dann schon gern wissen, wo Semken die „Spinner“ politisch einordnet. Auch mal klären müsste man, wo der Parlamentarier und Verfassungsschutzfan Pawel Meyer hingehört (dessen „Naivität“ gerade Thema bei Internet-Law ist)?
[+++] Und das Thema des Tages? Ist laut SZ das Ende von „Gottschalk Live“ (siehe Altpapier), jedenfalls geht es um diese Causa auf der „Thema des Tages“ heißenden Seite 2. Christopher Keil vergleicht unter der Überschrift „Torschluss - kein Grund zur Panik“ das Scheitern Gottschalks und Harald Schmidts und blickt auch noch mal etwas weiter zurück:
„Es ist kaum sechs Monate her, dass Gottschalk ‚Wetten, dass..?‘ verließ und damit eine Echo auslöste, als läge die deutsche Fernsehunterhaltung in Trümmern (was sie im übrigen aus anderen Gründen tut). So schnell wird einer seinen Ruhm dann doch nicht los.“
Von daher: „Gottschalk wird die Niederlage, im Gegensatz zur ARD, nicht schaden.“ In Claudia Tieschkys Text darunter geht es eher ums Monetäre:
„Das gescheiterte Geschäftsmodell Gottschalk zeigt ein paar tragische Symptome des Systems ARD.“
Anknüpfend an Keil, fragen Markus Ehrenberg und Joachim Huber im Tagesspiegel: „Wohin mit Thomas Gottschalk und Harald Schmidt?“ Diese Frage bewege „die Branche“, weshalb man ein paar Namhaften aus der Branche gesprochen hat, etwa mit Friedrich Küppersbusch - und auch mit Helmut Thoma, der der ARD nebenbei für die „Todeszone“ am Vorabend noch was empfiehlt, nämlich „die Entwicklung von Soaps für die Generation Ü60, à la ‚Verbotene Liebe‘ oder, noch besser ‚Rote Rosen‘“.
[+++] 45 Jahre bzw. 5555 Ausgaben alt wird in dieser Woche der Mediendienst text intern, über den man wohl nichts Falsches äußert, wenn man sagt, dass er derzeit nicht der auffälligste unter den Mediendiensten ist. Und es spricht auch nicht unbedingt für das Fachmedium aus Hamburg, dass in der Jubiläumsausgabe Markus Schächter als ZDF-Intendant firmiert. Eine bezeichnende Anekdote aus der Vergangenheit sei aber kurz erwähnt. Aufgeschrieben hat sie der frühere text-intern-Redakteur und heutige Manager-Magazin-Mann Klaus Boldt, „dessen Artikel berühmt dafür sind, dass man mit den in ihnen geflochtenen Girlanden eineinhalb mal sämtliche Karnevalsfeiern des südlichen Rheinlandes ausstatten könnte“ (Niggemeier einst). Einige Jahre, bevor Boldt das Blatt dann schließlich verließ, hatte er schon einmal gekündigt, weil er mit seiner damaligen französischen Freundin und der gemeinsamen Tochter nach Paris ziehen wollte. Als er dem Herausgeber Lutz Böhme die Lage darlegte, habe der gesagt:
„Ich will Sie nicht verlieren. Was halten Sie davon, wenn Sie jeden Donnerstag nach Paris flögen und am Montagmorgen wieder hier antreten. Die Flüge zahlen wir.“
Hin- und Rückflug hätten damals 400 Mark gekostet, schreibt Boldt. Und ein bisschen kann man daher die folgende „Girlande“ (Niggemeier) nachvollziehen:
„Lutz Böhme verkörperte die Medienwelt, wie ich sie liebte und wie sie einmal war oder wie ich sie gern gehabt hätte.“
+++ Eine „steife Brise an der Ericusspitze“ spürt Georg Altrogge, der bei Meedia einen Text über einen „Machtkampf beim Spiegel“ auf diese ericusspitzenmäßige Weise eröffnet. Hintergrund: Heftchefredakteur Georg Mascolo ist für Paid Content, Digital-Chefredakteur Mathias Müller von Blumencron und Geschäftsführer Ove Saffe sind dagegen.
+++ Im Wettbewerb um die blödeste Berichterstattung rund um den Breivik-Prozess gut um Rennen liegt die Bunte (Klatschkritik).
+++ Politische Blogs hätten in Deutschland keinen Einfluss auf die Politik, und daran werde sich in absehbarer Zeit nichts ändern, konstatiert Niklas Hofmann in einem Beitrag für das Deutschlandfunk-Debattenportal diskurs.dradio.de.
+++ Vielerorts besprochen: die Nahostkonfliktserklärungs-Miniserie „Gelobtes Land“ (Channel 4, heute und morgen bei arte): „Wuchtiges Werk“, urteilt Peter Münch (SZ). Ursula Scheer (FAZ) findet den Vierteiler „fesselnd“, und Michael Wuliger (Jüdische Allgemeine) hält ihn für großen Mist („Geschichtsfälschung“).
+++ Reklame für einen anderen Altpapier-Autor: Im Freitag-Schwerpunkt anlässlich des 100. Geburtstags Axel Springers beschreibt Klaus Raab, wie es der Medienkonzern „geschafft hat, die Mitte der Gesellschaft nach rechts zu rücken“.
+++ Reklame für mich selbst: Ein kurzer Text über die finanzielle schwierige Lage der Stuttgarter Wochenzeitung Kontext ist in der taz erschienen.
+++ Und schließlich ein Ranking: das Institut für Medien- und Kommunikationspolitik hat „die 50 größten Medienkonzerne 2012“ aufgelistet (siehe auch Pressemitteilung) Auf Platz drei steht Google - wobei Institutschef Lutz Hachmeister in diesem Zusammenhang gestern in der SZ (bisher nicht online) noch einmal eigens betonte, dass „hunderte Lobbyisten unterwegs“ seien, „um Politikern in den USA, Europa und Asien zu erklären“, dass Google ja gar kein Medienkonzern sei.
Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.