Gummiwand der Ignoranz

Gummiwand der Ignoranz

Gottschalkdämmerung, Wärmetod, Taliban-Fernsehen: Nach dem Absetzungsbeschluss für Thommy Gottschalks Werberahmen-Show steht schon wieder die ARD im Brennpunkt des Interesses.

Am Ende der Mediendiskussionsveranstaltung in Berlin, an deren Anfang Johannes Unger, der RBB-Leiter Dokumentation und Zeitgeschehen, sagte, dass er im Internet von der "Gottschalk live"-Absetzung gelesen hatte und dass es nun wieder "große Diskussionen in der ARD" darüber geben werde, wie denn der im Juni frei werdende Sendeplatz gefüllt werden sollte... - am Ende also wurde nicht nur "Riesling aus dem Land, wo der beste Riesling der Welt wächst", ausgeschenkt. Es wurden auch frische Thesen ausgeteilt. Acht Stück sind es, sie tragen die Überschrift "Gegen die Gummiwand der Ignoranz" und sind scharf formuliert:

 

"Der öffentlich-rechtliche Funktionsauftrag, die Diskussionsnotwendigkeit eines Themas oder das gesellschaftliche Informations-Bedürfnis treten als Kriterien der Programmgestaltung in den Hintergrund, stattdessen dominieren Marketinggesichtspunkte und ökonomische Überlegungen ... Die Deutungshoheit der Wirklichkeit geht allmählich von den Programm-Mitarbeitern auf Betriebswirte, Controller und Technokraten über",

 

heißt es in These drei, über deren Deutungshoheits-Anspruch sich natürlich so oder so streiten ließe.

 

"Wenn das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem sich weiterhin von der Kritik seiner Nutzer und Zielgruppen abschottet, verliert es seine Existenzberechtigung und stirbt den Wärmetod",

 

steht ganz am Ende. Die Thesen stehen jetzt auf der Webseite der AG Dok, die sie formuliert hat (und die ja schon im Februar vorgeschlagen hatte, "Gottschalk durch eine Dokumentar-Reihe zu ersetzen").

 

[+++] Seit gestern nachmittag, 16.10 Uhr, konnte man im Internet die Erklärung der ARD lesen, in der der Senderverbund sich aufplustert, als hätte er monatelang letztlich vergebens um Publikumsakzeptanz für von Filmstudenten mit der Handkamera gedrehte Schwarzweißfilme in untertitelten Originalfassungen geheischt:

 

"Es war ein Experiment, auf das sich Thomas Gottschalk mit seiner ganzen Persönlichkeit eingelassen hat. Er ist mit uns gemeinsam das Wagnis für ein neues Sendekonzept für den Vorabend eingegangen..." Und: "...Es war uns von Anfang an klar, dass wir mit diesem Format ein Experiment gewagt haben und ich war mir des Risikos zu jeder Zeit bewusst. ... Trotzdem hat mir diese Erfahrung großen Spaß gemacht und ich danke der ARD, dass sie mir die Chance dazu gegeben hat",

 

lassen sich die Großen Vorsitzenden der beteiligten Institutionen, also Monika Piel (ARD) und Thomas Gottschalk (Gottschalk live), zitieren.

 

Zum Glück rückt Christopher Keil das Gedröhne in der Süddeutschen zurecht:

 

"Die Sendung 'Gottschalk live' bestand im Wesentlichen aus harmlosen Gesprächen und Klatschthemen aus der Boulevardpresse - da halfen auch die hübschen Sprüche nicht."

 

Bzw. aus "ein bisschen Blabla vor den ernsten Nachrichten um 20 Uhr" bestand sie.

 

"Eine inspirationsfreie Vorabendshow, die kuriose Schlagzeilen und Youtube-Filmchen aus dem Netz fischt und mit Werbung und Wetter durchlöchert wird",

 

war "Gottschalk live" bzw. ist es noch, würde Peer Schader in der Berliner Zeitung sagen. Im weiteren Verlauf seines Texts nennt Keil den recht neuen Gottschalk-Showleiter Markus Peichl einen "Cleaner" (wohl nicht im Jean Reno/ Luc Besson-Sinne) und schildert, wie es gestern um 14.00 Uhr wegen der Spiegel-Vorabmeldung vom Wochenende zu einer Schaltkonferenz in der ARD kam, in der Piel, die womöglich selbst von Intendantenkollegen bekämpft wird, dann nur noch darum "kämpfte", Gottschalk halt

 

"noch die Wochen bis zur Sommerpause Anfang Juni zu gewähren. Offenbar plädierte ARD-Programmdirektor Volker Herres, 54, für einen sofortigen Abbruch."

 

Die Argumente, die Herres angeführt haben dürfte, hat die Funkkorrespondenz übersichtlich aufgelistet. Wer tief nach unten scrollt, erkennt, dass der Marktanteil der 14- bis 49-jährigen Zuschauer in Folge 46 am Dienstag mit 1,4 Prozent der niedrigste überhaupt war.

 

"Am Dienstag hat Thomas Gottschalk noch Witze gemacht und auf seine eigene Lage versteckt hingewiesen, auch wenn es um den Papst ging. Dass Benedikt XVI. gerade den fünfundachtzigsten Geburtstag gefeiert habe, zeige, 'dass Gott denen ein langes Leben schenkt, an denen er seine Freude hat'. Andererseits gelte, da auch Margot Honecker fünfundachtzig wird: 'dass Gott die Dinge nicht so eng sieht'".

 

So leitet Michael Hanfeld (FAZ) seinen heutigen Gottschalkdämmerungs-Artikel ein, in dem er anschließend die Chance beim Schopf packt, mal wieder in gedrechselten Sätzen die ARD zu kritisieren, und sich also als letzter Befürworter der Gottschalk-Show erweist:

 

"Man kann sicherlich Fehler bei Gottschalk und seiner jungen, hochmotivierten Truppe finden, doch grundlegend lag von Beginn an der Hase bei den Intendanten im falschen Pfeffer."

 

[+++] Mehr Gottschalk-Betrachtung im Schnelldurchlauf: Die TAZ, für deren Printausgabe die Meldung vom Aus für "Gottschalk live" zu spät kam, setzt online die Überschrift "Gottschalk dead" über die DPA-Meldung. "Es hätte 'Gottschalk Live' sein können, doch es wurde nur 'Gottschalk lahm' daraus", wortspielt Ex-Tazzler Stefan Kuzmany bei SPON. Die Bild-Zeitung kann mit einem aktuellen Exklusivgag des beliebten Entertainers ("Den Humor wird der große Thommy nie verlieren") befremden:

 

"Gottschalk zu Bild: 'Wir machen jetzt sieben Wochen Taliban-Fernsehen.'"

 

Und macht übrigens online derzeit mit "Samuel Koch: Die Wahrheit über meinen Horrorsturz" auf, einem Vorab-"Druck" aus dem Buch, das der "Wetten, dass...?"-Wettkandidat (dessen Unfall sozusagen erst dazu führte, dass Gottschalk bei der ARD landete) mit dem Journalisten Christoph Fasel schrieb.

 

Stern.de würdigt die Mittwochs-Ausgabe der ARD-Show einer eigenen Kritik ("Im Abgang zeigt sich der Unterschied zwischen Thomas Gottschalk und Harald Schmidt..."). Da dokumentiert Katharina Miklis auch den Abschieds-Gag, den Gottschalk gegenüber seinen gestrigen Showgästen Anke Engelke und Gloria von Thurn und Taxis riss (und den aus seinem Zusammenhang zu reißen selbst den ARD-"Tagesthemen" gestern in ihrem, nun ja: Bericht zur eigenen Sender-Sache, hier bei Min. 0.23.30, nicht zu doof war). Es wurde gestern also über die "Themen Herdprämie und Frauenquote" geplaudert:

 

"Engelke setzt nach: 'Weißt du was, du solltest den Intendanten zuvorkommen und hinschmeißen!'. Doch der Abschied von der Bühne fällt Gottschalk schwer - mag sie auch noch so klein sein: 'Jetzt einfach heimgehen? Nein'. Und dann wird er doch etwas aufmüpfig: 'Ich gehe nur, wenn an diesen Platz eine Frau kommt.'"

 

[+++] Der Tagesspiegel, eigentlich ja das "Gottschalk live"-Haus- und Hof-Blatt, bläht heute eigentlich bloß die schon erwähnte ARD-Pressmitteilung auf ("... An prominenten Gästen hat es indes nicht gemangelt. Gottschalk hatte Sportlegenden wie Franz Beckenbauer und Katarina Witt, den Modeschöpfer Karl Lagerfeld, ... oder bekannte Musiker wie Sebastian Krumbiegel und Peter Maffay zu Gast..."), nennt am Ende aber die Sendung, die zunächst ab 11. Juni (am ersten Montag der Woche nach der Woche, in der die Gottschalk-Show nach heutigem Stand auslaufen wird) stattdessen laufen soll, beim Namen:

 

"Die Vertretung für die Sommerpause stand indes schon zuvor fest. Im Wechsel mit der Fußball-EM und den Olympischen Spielen lädt Kabarettist Dieter Nuhr zu einer Spielshow. Ihr Titel: 'Null gewinnt'".

 

"Nach Spiegel Online-Informationen sollen vorerst Regional-Serien Gottschalk ersetzen", heißt es allerdings anderswo. Was die Zukunft betrifft, steht außerdem die Drohung, "wir werden nun in aller Ruhe gemeinsam über eine Zusammenarbeit in anderer Form nachdenken", aus der bedeutungsschweren offiziellen ARD-Pressemitteilung im Raum.

 

Wenn die ARD in aller Ruhe nachdenkt, entsteht meistens noch eine Talk- oder Quizshow. Dass die Gottschalk-Show-Absetzung die eingangs erwähnt "Gummiwand der Ignoranz" einreißt, steht nicht zu befürchten.

 

[P.S.: Hier im Altpapier ist Thommy Gottschalks ARD-Karriere natürlich intensiv begleitet worden. Leider sind die meisten älteren Altpapier als Kollateralfolge des evangelisch.de-Relaunchs derzeit nicht mehr verfügbar.]


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