Deutsches Fernsehen nervt

Deutsches Fernsehen nervt

Und bekommt endlich die Quittung: Es wird seltener eingeschaltet, besonders von Mädchen unter sechs Jahren. Außerdem nerven: der Rudeltrieb der Journalisten, die schweizerische "Weltwoche".

Im Internet an sich müsste man für die Verbreitung der Binse, dass das deutsche Fernsehen nervt, das Phrasenschwein flattrn. Hier im Altpapier aber, das sich den Medienmedien und traditionell besonders den Medienseiten gedruckter Zeitungen verbunden fühlt, erstaunt doch, wie sehr sich dort derzeit Fernseh-Überdruss Bahn bricht.

Zum Beispiel nervt den Tagesspiegel in Gestalt seines Medienseitenchefs Joachim Huber "das Geld-Fernsehen", das in "immer mehr Spielshows immer höhere Gewinne" verjubelt. Aktuell geht es um die neue Privatfernsehshow "The Winner is..." und um die neue GEZ-Gebühren-finanzierte, Günther-Jauch-produzierte Show "Opdenhövels Countdown" (Foto). Das muss man dem Tagesspiegel tatsächlich lassen, dass er unter den Zeitungen diejenige ist, die nicht immer nur einzelne Sendungen ankündigt, sondern zumindest manchmal auch Zusammenhänge herstellt.

Es nervt aber auch, ebenfalls den Tagesspiegel, "dieser allzu weichgespülte 'Tatort'-Touch", also die Tatsache, dass in der irrsinnigen Masse deutscher Fernsehkrimis "Intensität, Schärfe, Dringlichkeit" so gut wie gar nicht mehr auftauchen. (Fairerweise muss gesagt werden, dass diese Kritik zum Lob einer Ausnahme von dieser Regel, des heutigen ARD-Fernsehfilms "Lösegeld" geäußert wird, an dem selbst dann aber auch so einiges nervt u.a. das "coole Saxofon" in der Untermalungsmusik; mehr zum Film im Altpapierkorb).

Ferner nervt der "Programmierungstrend", "hinter eine fiktive Geschichte die passende Dokumentation zu schieben", der nämlich immer so wirkt, "als wollten die Verantwortlichen die eine oder andere Ungenauigkeit aus dem betreffenden Spielfilm wieder glattbügeln". Das bemerkte gestern aus einem Sat.1-Anlass, der aufs öffentlich-rechtliche Fernsehen freilich erst recht zutrifft, Carolin Gasteiger (sueddeutsche.de).

Außerdem nervt schon jetzt, wie "arg beifallheischend" der Bayerische Rundfunk sein ab Mitte Mai mit Richard Gutjahr sowie "Sascha Lobo, Daniel Fiene und Sandra Rieß ('Unser Star für Baku')" programmiertes "neues Social-TV-Projekt" unter dem pfiffigen Namen "Rundshow" inszeniert (meedia.de):

"Schon das frech klingende Motto 'Occupy Bayerischer Rundfunk' wirkt unfreiwillig unangemessen, geht es letztlich doch nicht darum die Senderwelt aus den Angeln zu heben, sondern diesem ein paar zusätzliche Kanäle freizuschaufeln. Genauso lässt sich darüber streiten, ob eine Piratenflagge auf einem trostlos wirkenden Containerbaus auf dem BR-Gelände gehisst werden muss und ob dies im aktuellen politischen Kontext die adäquate Zeichensetzung ist. Immerhin bezieht Gutjahr diesen Vergleich nicht auf die gleichnamige Partei, sondern auf einen Ausruf von Steve Jobs ('Let's be pirates!')..."

Aber ehrlich gesagt, dass Gutjahr seinen Piratenanklang statt auf die gleichnamige Partei auf St. Jobs münzt, nervt sogar noch mehr und sollte die auf Schleichwerbung spezialisierten Rundfunkratsgremien schon mal hellhörig machen.

Die Dritten Programme mit ihren Unterhaltungsformaten nerven ja ohnehin ganz besonders (vgl. St. Niggemeier kürzlich), außerdem Frank Plasbergs Quizshows (TAZ) und Arte mit seinen Versuchen, immer und immer wieder Castingshows mit "originellen" Ansätzen zu veranstalten (TAZ). Sowie ganz besonders die Flut sogenannter Reality-Formate. Wie die Medienwächter aus den föderalen Landesmedienanstalten gerade ermittelten, füllt dieses Programmsegment insbesondere bei Bertelsmann-Sendern deutlich mehr als ein Drittel der gesamten Sendezeit, bei Vox "knapp 40 Prozent", bei RTL "rund 38 Prozent". (Siehe auch evangelisch.de).

Doch nehmen die Zielgruppen den Fernsehmachern ihren Mist auch nicht mehr im Ausmaß wie früher ab. Erstmals seit..., seit..., seit wann steht gar nicht in der durchaus überraschenden Meldung (Tsp.), womöglich erstmals seit Menschengedenken ist nun die durchschnittliche Fernsehnutzung in Deutschland  gesunken, um sechs Minuten pro Tag und Zuschauer, auf nur noch "vier Stunden und zwei Minuten". Wer es ganz besonders richtig macht, sich als besonders medienkompetent erweist, sind die "drei- bis fünfjährigen Mädchen". Sie sehen täglich sogar 25 Minuten weniger fern als noch vor einem Jahr.

[+++] Wenn man fair ist, ist die Aussage, dass Fernsehen nervt, natürlich so differenziert wie die Information "Quelle: Internet". Es werden ja in beide Infrastrukturen unglaublich viele Inhalte hinein gegossen, die streng genommen jeweils einzeln bewertet werden müssten. Viele Phänomene nerven in vielerlei medialer Ausprägung. Zum Beispiel nervt die "Rudelmentalität der Medien", die heute die TAZ vor einem Hintergrund beleuchtet, der in Deutschland eher selten nervt (außer natürlich in Form der Schwedenkrimiflut bei ARD und ZDF): einem skandinavischen. Die Frage, wie vom Prozess gegen Anders Behring Breivik berichtet werden kann, ohne einerseits Breiviks zu diesem Zweck ausgeklügeltem "Manifest" zu viel Raum zu geben und ohne andererseits alternativ bloß "die griffigsten Zitate und die eingängigsten Bilder" zu zitieren, geht Reinhard Wolff nach. 

Was tun gegen Rudelmentalität? Von Roger Köppel lernen, und zwar "Verweigerung des journalistischen Herdentriebs".

Das ist die zweite größere Überraschung heute. Im Zuge der um sich greifenden (vgl. Altpapierkorb gestern) Kritik am aktuellen Anti-Roma-Cover der schweizerischen Weltwoche gibt es allerhand Artikel. Am erregtesten Robert Misik auf der TAZ-Meinungsseite sowohl mit Julius Streicher/ Stürmer- als auch mit Jugoslawienkriegs-Vergleichen, die der "Es muss doch möglich sein, ernsthaft und offen über solche Probleme zu reden"-Attitüde des stellvertretenden Zeitungs-Chefredaktors Philipp Gut (Weltwoche-Video) jede Menge Argumente an die Hand gibt.

Wer das Video bis zum Abspann anschaut, sieht übrigens, dass es von der Axel Springer Schweiz AG produziert wurde (wofür es aber verdammt seriös anmutet). Springers Welt gibt einen Überblick zur überall geäußerten Kritik.

[listbox:title=Artikel des Tages[Kritik am Geldfernsehen (Tsp.)##...am Doku-Programmierungstrend (sueddeutsche.de)##... an der bayrischen "Rundshow" (media.de)##Fassungsloser Fotograf Mancini (KSTA)##Journalismustrend Rudelbildung (TAZ)##Von Köppel lernen? (Grob-Interview)##Nachruf auf den C64-Erfinder (FAZ)]]

Interessanter Kerstin Meiers KSTA-Bericht über die Fassungslosigkeit des italienischen Fotografen Livio Mancini, der "den Jungen 2008 für eine Reportage über das menschenunwürdige Leben von Roma-Kindern auf einer Mülldeponie im Kosovo fotografiert" hat und damit mitnichten eine Reportage über Bandenkriminalität in der Schweiz zu illustrieren gedachte.

Was im Internet oft nervt, dass etwas vollständig aus seinem ursprünglichen Kontext entfernt und in einen anderen Kontext mit einer völlig anderen Aussage hineinmontiert werden kann, das gab es schon immer und gibt es noch immer auch in der gedruckten Presse.

Und etwas überraschend wie gesagt das Interview, das meedia.de mit einem der Medienschweizer aus Berlin, dem "6vor9"-Gestalter Ronnie Grob aus dem Weltwoche-Anlass führte. Mit Kritik an dem schweizerischen Blatt und seiner Covergestaltung geizt Grob nicht, aber als er gefragt wird, was deutsche Journalisten von Köppel lernen können, weiß er sogar eine Menge aufzuzählen:

"Humor, Selbstironie, Unternehmergeist, Fleiß, Staatsausgabenkritik, eigenständiges Denken, die Verweigerung des journalistischen Herdentriebs."


Altpapierkorb

+++ Wen das deutsche Fernsehen offenbar nicht nervt: Katharina Riehl von der Süddeutschen. Zumindest spielt sie die Samstagskrimis des ZDF (!) gegen die gerade erschienene zweite Ausgabe der deutschen Wired-Zeitschrift aus ("Gut gemacht, nur für wen?"). +++

+++ "Ein aussterbendes Metier" nennt der Aufmacher der Süddeutschen-Medienseite die gute Fotografie, und zwar, weil Volker Hinz, "einer der besten Fotografen Deutschlands", in den Ruhestand geht. Hinz, Jahrgang 1947, war Stern-Fotograf, eine Ausstellung seiner Werke gibt's gerade bei G+J zu sehen (und hier ein stern.de-Video, in dem nach wenigen Sekunden Zeitzeuge Franz Beckenbauer auftritt). +++

+++ Gestorben ist der Commodore 64-Erfinder Jack Tramiel, der Jacek Trzmiel hieß, als er Auschwitz und das Arbeitslager Hannover-Ahlem überlebte und dann in die USA ging. Daran, aber auch daran, dass Tramiel "den damaligen Apple-Chef Steve Jobs ... mit seinem Urteil über den Macintosh" verärgerte, "dass dieser nur in Schönheitsboutiquen verkauft werden könne", erinnert Detlef Borchers in der FAZ. +++ Auf der FAZ-Medienseite schreibt Jürg Altwegg zur Weltwoche-Causa: "Die 'Weltwoche' befindet sich in einer schwierigen Phase. Sie leidet an Leserschwund. Die Schweizerische Volkspartei, deren Aufstieg sie beflügelte, befindet sich im Niedergang. Wegen der Informationen über ein Devisengeschäft des Nationalbank-Präsidenten kam es zu einer Hausdurchsuchung bei Christoph Blocher. Skandale sind das Brot des gebeutelten Blatts – vor den Roma nahm es sich der Genfer an: 'Die Griechen der Schweiz'" +++

+++ Wen das Fernsehen auch nicht nervt: Steffen Bothe. Berlins "eifrigsten TV-Stammgast", der "mehr als 1.500 Shows im Studio verfolgt" hat, stellt wie zum Ausgleich für seine sonstige Fernsehkritik heute der Tagesspiegel vor. +++

+++ Zum oben bereits gestreiften heutigen ARD-Film "Lösegeld" des Regisseurs und Autors Stephan Wagner: Er hat "viele Stereotypen neu arrangiert und dabei eine kühle Krimi-Romanze gedreht", lobt ambivalent die Süddeutsche. +++ Das Ausbrechen aus dem Programmfarben-Raster scheint Heike Hupertz in der FAZ etwas zu irritieren: "Das Ende mag überraschend kommen. Das Spiel der Darsteller ist über fast jeden Zweifel erhaben", das ist es ja auch in den härtesten Degetofilmen. +++ Was meint Tilmann P. Gangloff nebenan? "Diese Doppelbödigkeit der Figuren passt perfekt zur Vielschichtigkeit der Geschichte, die zudem nicht unerheblich durch die Bildgestaltung von Thomas Benesch und den entspannten Jazz von Irmin Schmidt geprägt wird." +++

+++ Frischen Fußballrechte-Stoff aus der Süddeutschen bietet bereits kress.de frei online. +++

+++ Piraten-Stoff: "Jenseits eines stetig wachsenden europäischen Rechtspopulismus bieten die Piraten als neue populistische Partei Deutschlands Utopien an, denen die Idee einer freiheitlich-humanistischen Migrationspolitik zugrunde liegt", freut sich Martin Kaul unter der Überschrift "Raus aus der Dorfschänke" in der TAZ. Und zwar auf der Seite, auf der außerdem das deutsche Kneipensterben Thema ist. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.