Flinke Tinte

Flinke Tinte

Günter Grass' Gedicht geht um die Welt. "Veröffentlichen heißt ja nicht Zustimmen", meint die Süddeutsche Zeitung, die den vielleicht Wikileaks-artigen Coup gestern landete.

So schnell hat sich vielleicht noch nie ein unvertontes Gedicht verbreitet, zumindest noch kein deutschsprachiges. Als Gedicht erkennen lässt sich Günter Grass' Spätwerk "Was gesagt werden muss" vor allem, wie auch Harald Schmidt anmerkte (Video, noch in der ersten Minute), durch die Zeilen- bzw. Zeilenendsetzung. Das merkt man schnell, wenn es ohne Zeilensetzung "dokumentiert" wird (Und darüber, wie es überall dokumentiert wird, z.B. auch strophenweise zum Durchklicken, wäre vor dem Hintergrund sonstiger aktueller Debatten eine urheberrechtliche Einschätzung auch interessant; wahrscheinlich übertrumpft halt zeitgeschichtliches Interesse persönliche Rechte).

Am Tag danach ist Zu "Was gesagt werden muss" wohl schon längst alles gesagt, was gesagt werden musste, und vermutlich auch noch viel mehr. Es gibt, nur zum Beispiel, eine am Anfang (mit den Ikea-Regalen) etwas umständliche, aber halt auch schon früh (gestern vor 16.35 Uhr, wenn man der "ältesten Lesermeinung" folgt) erschienene Interpretation von Frank Schirrmacher bei faz.net. Und seit heute morgen um 0.11 Uhr auch eine zeitungsgattungsgemäß kürzere von Mathias Döpfner bei bild.de ("Der braune Kern der Zwiebel"). Dass Döpfner im Kern Sascha Lobo wiederholt, spricht gegen keinen von beiden. Es kann ja nicht jeder alles als erster äußern und verbreiten, zumal Wahrgenommenwerden ja noch etwas anderes ist (freilich weder Döpnfers noch Lobos Problem). "Irres Gedicht gegen Israel" lautet übrigens gaddafiesk die Schlagzeile über dem, nun ja: Bericht der Bild-Zeitung.

Es gab gestern schon Presseschauen, von der DPA und eine angenehm entspannte von Wolfgang Michal (Carta), es gibt heute, nur zum Beispiel, "Ach, Grass"-Seufzer und Kommentare zum Rechts-/ Links-Aspekt der Sache wie auf der TAZ, Persiflagen wie die im Gossengoethe-Stil bei boschblog.de gibt's selbstredend auch. Ist das, abgesehen davon, dass all das (und noch viel viel mehr) in den Medien stattfindet, ein Medienthema?

Insofern, als dass das Gedicht eben so schnell wie kein anderes in die Welt gelangte. Gestern stand es auf der ersten Feuilletonseite der Süddeutschen Zeitung, aber auch in "anderen internationalen Blättern", wie die Süddeutsche heute auf ihrer ersten Seite schreibt. Gestern verlinkte perlentaucher.de zur spanischen Übersetzung. In Italien in La Repubblica sei es auch erschienen und in der New York Times (wobei deren Blog The Lede lieber wieder zum deutschen Original in der deutschen Originalquelle verlinkt).

"Ein globaler Medien-Coup eines alten Mannes, wie man es sonst nur von Julian Assange und Wikileaks kennt", meinte daher meedia.de. Und auch wenn zumindest seine Formulierung von "weltanschaulich nicht ganz lupenreinen Zeitgenossen" nicht die allerglücklichste ist, hat Stefan Winterbauer doch damit recht:

"Die SZ druckt das Gedicht aber in einem Kasten auf der Feuilleton-Aufmacherseite unkommentiert. Auch auf der Meinungsseite der Zeitung fehlt jede Einordnung, jede Meinung zu dem Gedicht, in dem der deutsche Literatur-Nobelpreisträger Grass den Staat Israel immerhin als Gefahr für den Weltfrieden bezeichnet."

Exakt verhielt es sich gestern so, dass das Seite 1-Foto der Süddeutschen Grass mit der Bildunterschrift "Ein Aufschrei/ ...warnt vor einem Krieg gegen Iran. In seinem Gedicht mit dem Titel 'Was gesagt werden muss' fordert der Literaturnobelpreisträger deshalb, Israel dürfe keine deutschen U-Boote mehr bekommen" zeigte, oberhalb der Top-Schlagzeile "Massiver Widerstand gegen Vertiefung der Elbe". Auf der ersten Feuilletonseite war dann der Gedichtkasten umrahmt von einer Besprechung des neuen Luc Besson-Films "The Lady - Ein geteiltes Herz" über Aung San Suu Kyi, einem Bericht über das BMW Guggenheim Lab und Berlin sowie einem über die Solarfirmen-Insolvenz in Bitterfeld und Monika Maron. Sonst war da nichts in Sachen Grass.

Heute nun verweist die Süddeutsche auf ihrer ersten Seite ("Empörung über Grass") aufs Feuilleton und auf ihre Seite 4, auf der man das Stichwort "Grass" allerdings gar nicht findet. Bloß heißt der Leitartikel des Chefredakteurs Kurt Kister "Judas 2.0". Er gilt also vor allem dem Internet, das er wie im Moment jeder anständige Leitartikel mal kurz definiert:

"Über das Internet kann jeder Interessierte die theoretisch größtmögliche Öffentlichkeit herstellen und diese aber gleichzeitig durch speziell auf ihn zugeschnittene Dienste in seinem unmittelbaren Lebensbereich konzentrieren. Medientheoretisch gesehen, bedeutet dies die Zusammenfassung der Welt in einem Smartphone in der Handfläche, dessen Besitzer gleichzeitig Empfänger und Sender ist. Das Jedermann-Sendersein ist der riesige Unterschied zum Vornetz-Zeitalter."

Es geht im gewohnt lesenswerten Leitartikel dann aber um Lynchmobs anlässlich der Ereignisse in Emden, ums daher besonders aktuelle Thema journalistischer Verantwortung sowie um Ostern. Und gar nicht um Grass.

Vorn im Feuilleton schreibt Thomas Steinfeld, der Literaturchef der Süddeutschen, dann unter der Überschrift "Dichten und meinen" das, was aus Sicht des SZ-Feuilletons gesagt werden muss und vielleicht auch schon früher, also gestern, hätte gedruckt werden können. Bzw. in der schnelllebigen Gegenwart heute vielleicht einen Tick verspätet wirkt (wobei es online natürlich gestern erschienen ist, gut anderthalb Stunden nach Schirrmacher):

"Günter Grass hat ein Gedicht geschrieben. Es ist nicht sein erstes Gedicht",

beginnt Steinfeld deeskalierend und gelangt bald darauf zu dieser Interpretation:

"Nicht alle Gedichte von Günter Grass sind wirklich Gedichte. Bei der frühen Lyrik mag noch die Mehrheit der Werke diesem Genre zugehören, bei den späten ist das nicht mehr der Fall. Das merkt man daran, dass keiner sie als Gedichte in Erinnerung behält. In Wahrheit sind sie Leserbriefe, Beschwerden, Zeitungsartikel oder Plädoyers, die nicht zu der ihnen gemäßen Form gefunden haben."

Inhaltlich distanziert sich Steinfeld natürlich von Grass' jüngstem Gedicht oder Leserbrief:

"Günter Grass irrt, nicht immer, aber immer wieder."

Dann zählt er Beispiele für Grass-Irrtümer auf, darunter auch Zeilen des jüngsten Gedichts, und meint anschließend:

"Aber solche Formen des Irrtums gehören eben zum Meinen, und meinen - das tat auch Avi Primor, der ehemalige Botschafter Israels in Berlin, als er vor zwei Monaten, in Gestalt einer 'Außenansicht', in dieser Zeitung schrieb, Israel könne es sich nicht leisten, Iran für 'unantastbar' zu halten. Auch in diesem Fall wäre, wie bei Günter Grass, die Frage, ob man dergleichen publizieren sollte oder nicht, nur fiktiv. Denn Veröffentlichen heißt ja nicht Zustimmen."

[listbox:title=Artikel des Tages[Was heute in der SZ gesagt werden muss##Assange-artiger Mediencoup? (meedia.de)]]

Zur Frage, wie genau das Gedicht entstanden und in die Süddeutsche gekommen ist, ob tatsächlich als Leserbrief, wüsste man gern noch etwas mehr (und wird es sicher bald erfahren). Die Frage, ob man dergleichen publizieren sollte, stellt sich wahrscheinlich überhaupt nicht, wenn ein globaler Mediencoup winkt. Und die Forderung, dergleichen nicht unkommentiert zu veröffentlichen, wirkte irgendwie auch "outdated" (Til Schweiger in völlig anderem Zusammenhang); man braucht ja nur irgendein elektronisches Medium anzuschalten und wird von Meinungen überflutet. Komplett egal im Jedermann-Sender-Zeitalter, ob der Originalkontext in Echtzeit auch schon eine Meinung enthielt.

An die Flinkheit aber, mit der Günter Grass' "letzte Tinte" (vielleicht war's ja nicht die allerletzte und es fließt noch etwas inhaltlich Sinnvolleres), die vermutlich eher aus einem Füllfederhalter als einem Tintenstrahldrucker kam, anschließend um die Medienwelt gegangen ist, wird man sich vermutlich noch erinnern, wenn der poetische Wert und hoffentlich auch der inhaltliche Anlass des Gedichts längst vergessen sind.


Altpapierkorb

+++ Jedenfalls, das Agenda-Setting der Massenmedien, wie es vor "genau 40 Jahren" von Maxwell McCombs definiert wurde, funzt immer noch. Bloß, "in all diesen Modellen wird man mit dem Aufstieg der Sozialen Medien nun einige neue Komplexitätsebenen ergänzen müssen", schreibt heute auf der Medienseite der Süddeutschen Niklas Hofmann. Ob man sich für die sog. sozialen Medien jetzt auch Großschreibung angewöhnen muss, bleibt aber noch offen. +++

+++ Medienstoff aus dem aktuellen Zeit-Feuilleton: ein Schmidt/ Gottschalk-Räsonnement ("Selten gab es in der Fernsehgeschichte so viel Abschied") von Ijoma Mangold, der seinen Abschied vom Fernsehen ja schon hinter sich hat; ein Interview mit dem Tatort-Aufruf-Unterzeichner Jochen Greve ("...Ich nehme an, dass diese Generation nach dem Motto 'Geiz ist geil' sozialisiert wurde und darum so seltsam Manchester-kapitalistische und eigentlich ganz unmoderne Ansprüche stellt. ..."). +++ Ein recht wilder Beitrag zur Urheberrechtedebatte aus dem FAZ-Feuilleton gestern steht inzwischen zzgl. interessanter Diskussion frei online. +++

+++ Die öffentlich-rechtliche, aber kostenpflichtige (und auch teure) Onlinde-Videothek "Germany's Gold" kommt nun (Handelsblatt). +++

+++ Weitere Besprechungen zum heutigen ZDF-Fernsehfilm "Komm, schöner Tod" (siehe Altpapier gestern): Der Tagesspiegel schildert das Problem "eines ambitionierten Films mit guten Darstellern, der seine Tonlage zwischen Satire, überzeichneten Figuren und Thesenfilm einfach nicht finden will", weist aber auch mit Regisseur Friedemann Fromm darauf hin, dass der Film anders geworden wäre, wenn die Macher vorab gewusst hätten, dass er nicht um 20.15 Uhr ins Programm kommt. +++ Es "mag Friedemann Fromms persönlichster Film sein, ist aber sicher nicht sein bester", meint David Denk in der TAZ. +++ "Gewisse Schwächen" diagnostiziert auch evangelisch.de. +++

+++ Die FAZ-Medienseite bringt heute außer einem kurzen Nachruf auf den früheren SDR-Intendanten Chefredakteur Kurt Stenzel zwei ausführliche Besprechungen zu österlichem Titanic-Fernsehen (die englische Miniserie im ZDF, "Titanic - Anatomie einer Katastrophe" bei Vox). +++ Ohne allzu viel Begeisterung ("Dafür kommt das Ganze ohne das Lalala einer Celine Dion aus, von dem wir nun ja auch wissen, dass selbst Kate Winslet sich jedes Mal beim Hören fast übergeben muss...") hat Rebecca Casati die Miniserie für die Süddeutsche besprochen. +++

+++ Ferner besprochen: die Dokumentarfilme "Die große Passion" (Bayern 3, Tsp.) und "I shot my Love" (Arte, Süddeutsche). +++

+++ Und im Rahmen einer Meldung zur Streitigkeit zwischen Johannes Heesters' Witwe und dem Goldene Kamera-Ausrichter Springer nennt die Süddeutsche die Bunte "Gesellschafts-Magazin". +++

Neues Altpapier gibt es dann wieder am Dienstag nach Ostern..