Total Unterstanding

Total Unterstanding

Deals mit Daten-Leckerbissen als Online-Spiel, Adblocker als Holzhämmer für Existenzgrundlagen, Tierfutter als das neue Print: Der Journalismus ist keine Schraubenfabrik, könnte aber systematisch scheitern.

"Ich investiere sie" - die 120 im vorherigen Spielzug eingenommenen Dollar - "in einen Online-Psychotest, dessen Nutzerdaten samt E-Mail-, IP-Adresse und Intelligenzquotient bestimmt die großen Arbeitgeber interessiert, die ich als Kunden gewinnen möchte. Sicherheitshalber habe ich den Psychotest noch ausgebaut. Jetzt können die Nutzer auch erfahren, ob sie depressiv sind oder irgendwann werden könnten. Das wollen sie bestimmt wissen, denke ich mir. Und meine Kunden auch. 1300 Dollar hat mich diese Erweiterung gekostet. Meine Mittel schwinden. Aber noch habe ich genug Rücklagen, um mit 'Schwester Elfriede' ins Geschäft zu kommen..."

Fridtjof Küchemann hat für die FAZ-Medienseite die Beta-Version von "Data Dealer - Legal, Illegal, Scheißegal!", dem "in bester Culture-Jamming-Manier" in der Heimat der deutschsprachigen Facebook-Skepsis, in Österreich entwickelten, "beeindruckend professionellen Facebook-Spiel" (netzpolitik.org) testgespielt. Und macht tatsächlich Lust, in das Spiel, dessen Mission in etwa lautet: "Hol dir die besten Daten-Leckerbissen", um dann "zum mächtigen Daten-Kapitän" bzw. "-Mogul" aufzusteigen, einzusteigen.

[+++] Andererseits bzw. noch schlimmer, von den im Netz schon zirkulierenden und noch erhebbaren Daten müssten idealerweise ja auch die Urheber und Intermediäre der Inhalte leben. Im Wirtschaftsressort des Berliner Tagesspiegels steht heute ein Artikel, der die Reiz und Herausforderung der derzeitigen Boombranche "Zielgerichtete Werbung" im Internet gewiss auch kritisch, aber doch so wirtschaftsfreundlich darlegt, wie es Wirtschaftsressort-Leser erwarten oder gewohnt sind.

"Individuelle Anregungen stünden immer mehr im Mittelpunkt, nur müssten die noch 'schlauer' werden. Heißt: Wenn einer eine Duschkabine gekauft hat, darf ihm nicht noch eine Duschkabine angeboten werden. Sondern ein Duschvorhang. Oder Shampoo",

sagt in diesem Artikel der Vorstandsvorsitzende des Marktforschungsunternehmens "Gruppe Nymphenburg" (dessen Mission lautet: "Unser Anspruch: Total Customer Understanding - gezielte Generierung von Shopper & Consumer Insights"). Weitere Experten, die in diesem Artikel auftreten und vom breiten Rechercheansatz zeugen: Bundesdatenschützer Peter Schaar und Tina Kulow, das deutsche Facebook-Personal.

Noch aufschlussreicher jedoch der Service-Hinweis, den Kurt Sagatz aus der Medienredaktion den Lesern nebenan in der Randspalte reicht: Einerseits empfiehlt er Anti-Tracking-Tools für gängige Browser, rät andererseits mit dem Argument, dass Online-Werbung für viele Webseiten "auch die Existenzgrundlage" bedeutet und durch "Holzhammer"-Adblocker genommen würde, zu Existenzgrundlagen-schonenderen Varianten wie "EasyList" oder "TrackerBlock".

[+++] Schließlich, das wissen Altpapier-Leser seit Jahren, werden Quartal für Quartal immer weniger Zeitungen verkauft und kann Onlinewerbung auf den Webseiten derselben Zeitungen die rückläufigen Einnahmen kaum auffangen. An frischen Denkanstößen zur Zukunft der Zeitung herrscht auch heute wieder kein Mangel. Zum Beispiel berichtet Mercedes Bunz auf sueddeutsche.de aus London vom "Open Weekend" des Guardian.

Ihr Bericht beginnt mit einer ergreifenden Szene, die Mitarbeiter gedruckter Zeitungen zweifellos längst selten erleben:

"Mittags, kurz vor zwölf, war die Zeitung vergriffen. Am hauseigenen Stand vor dem Redaktionsgebäude beratschlagten drei ratlose Mitarbeiter, was zu tun sei. An den übrig gebliebenen Merchandising-Produkten drängten in Scharen neugierige Leser vorbei, auf dem Weg zu ihrem nächsten Vortrag..."

Ob solche Event-Veranstaltungen, falls sie öfter stattfinden sollten, dauerhaft zur Finanzierung von Zeitungen beitragen können, bleibt dann aber offen. Irgendwie geraten deutsche Guardian-Aficionados doch immer arg ins Schwärmen. Am Ende aber schließt Bunz mit den Vierte-Gewalt-tragenden Sätzen:

"Am Sonntagabend war der Guardian-Zeitungsstand vorm Haus als einer der ersten abgebaut, während sich drinnen eifrige Leser zur großen Abendveranstaltung versammelten, und es war klar: Zeitungen wandeln sich, aber ihre Funktion als Stiftung einer Gemeinschaft, die bleibt",

bei denen man froh ist, dass Alfred Neven DuMont so direkt auf sie verzichtet. Der große alte kölsche Verleger begeht am morgigen Donnerstag seinen 85. Geburtstag und gab aus diesem schönen Anlass der DPA ein großes Interview (siehe meedia.de), das die Koblenzer Rhein-Zeitung integral abdruckte und online stellte. Die Fragen stellten DPA-Chefredakteur Wolfgang Büchner und Jürgen Hein vom Landesdienst Nordrhein-Westfalen, und es ehrt Neven DuMont, dass er auf derart langweilig-gelangweilte Fragen wie

"Was ist für Sie das besondere am Journalismus? Was unterscheidet einen Verlag von einer Schraubenfabrik?"

nur mit der zwei sphingischen, aus insgesamt drei Wörtern bestehenden Sätzen antwortet und stattdessen lieber eigenen Visionen entwickelt. Obwohl er wie gesagt erst 85 wird, geht er zum Beispiel doch in die 1860er, 1870er Jahre zurück ("in die Bismarck-Zeit. Damals hatten Zeitungen wie die Frankfurter oder die Kölnische Zeitung Auflagen von 40.000 oder 60.000 - und waren hoch angesehen. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass unsere Auflagen schrumpfen"). Außerdem übt er, was bei Zeitungslesern (außerhalb des Wirtschaftsressorts) gewiss gut ankommt, Manager-Kritik:

"Nichts gegen Manager, sie denken von der Wirtschaftlichkeit her, und das sollen sie auch. Aber es kann sein, dass der publizistische Auftrag dann eventuell zu kurz kommt. Im Gegensatz dazu muss ich meinen Kollegen sagen: Investiert in die Qualität eurer Blätter! Denn Qualität ist das einzige, was letzten Endes zählt. Die kreative Elite will Stoff haben. Deshalb müssen die Zeitungen in der Zukunft an Qualität noch zunehmen."

[+++] Schon vorhin, als davon die Rede war, was Altpapier-Leser seit Jahren wissen, werden regelmäßige Altpapier-Leser aufgemerkt haben: Trotz schrumpfender Zeitungsauflagen verkünden klassische Pressekonzerne doch Quartal für Quartal steigende Gewinne, vor allem aus digitalen Geschäften, etwa gerade erst wieder Burda. Wie die emsigen Manager so etwas anstellen, hat Thomas Koch, seines Zeichens Mediaberater und damit nah an den Werbetreibenden, in der kargen Posterous-Optik, aber in so deutlich selten zu lesenden Worten unter der Überschrift "Tierfutter ist das neue 'Print'..." aufgeschrieben:

"Wer nun glaubt, das seien die Umsätze aus Online-Werbung (die mehr und mehr die klassischen Anzeigenerlöse verdrängen), sieht sich im Irrtum. Burda betreibt zwar auch bunte.de und focus.de, hat jedoch inzwischen den Tierfutterversender zooplus AG gekauft, der nun maßgeblich zum Umsatz beiträgt. Ebenso zum Burda-Reich gehören auch die Reiseseite HolidayCheck und die Singlebörse ElitePartner. ..."

Und bei Springer, das im Digitalbereich erst recht brummt, verhält es sich ähnlich.

[listbox:title=Artikel des Tages[Suliman über das System Journalismus (SZ)##Onlinespiel "Data Dealer"##FAZ-Spielbericht##Paradigma Bismarck-Zeit (Neven DuMont-Interview)##Tierfutter als neues Print (ufomedia)##Hunde verdienen gut im Fernsehen (KSTA)]]

[+++] Insofern sollten Journalisten es mit der Zuversicht, dass Zeitungen (gedruckte wie online betriebene) etwas völlig anderes als Schrauben- oder Marmeladenfabriken sind und dass ihre Funktion als Gemeinschaftsstifter schon erhalten bleibt, nicht übertreiben. Den größten dieser Tage online erschienenen Journalismuszukunfts- bzw. -zustands-Text hat Aktham Suliman geschrieben, der Deutschland-Korrespondent von Al Dschasira, und zwar für die Wochenendausgabe der Süddeutschen, aus der er dann frei online gestellt wurde (Hinweis via @ojour_de). Suliman erfrischt durch Mut zu etwas komplizierteren Sätzen und Verzicht auf ostentativen Optimismus:

"Lediglich aus der Ecke der Medienforschung entnehmen Interessierte gelegentlich, dass sich mit zunehmendem Medienkonsum eine Art Medienrealität in den Köpfen etabliert, dass die Medien bei der Bildung der öffentlichen Meinung und von vermeintlichen Mehr- oder Minderheiten eine entscheidende Rolle spielen. Dabei erleben Journalisten oft jeden Tag aufs Neue das Scheitern des Systems Journalismus. Noch schlimmer: Wie es zum Scheitern anderer Systeme beiträgt. Wo liegt das Mekka des modernen Journalisten? Im Internet und nennt sich 'Google'."

Dass Suliman zur Metapher Mekka vermutlich eine andere Beziehung hat als viele, die sie sonst so verwenden, macht seinen Text noch stärker.


Altpapierkorb

+++ "Wird das deutsche TV-Publikum klüger?" - "Meine ironische Hoffnung ist eher eine Selbstvernichtung des Mediums...", antwortet darauf Bernhard Pörksen, der gern interviewte Medienwissenschaftler, am Ende des sueddeutsche.de-Interviews zur womöglich bald beendeten Zukunft der Castingshow. Wie die folgenden Sätze andeuten, hofft er aber bloß auf Selbstvernichtung dieses Fernsehgenres. +++ Nochmals rasch zurück zu Suliman: "Der moderne Wissenschaftler ist ein eleganter Marketingkünstler. Am Ende eines Fernsehinterviews fragt er ganz selbstverständlich: 'Soll ich jetzt durch die Tür kommen oder lieber ein Buch aufschlagen für die Antextbilder?'", schreibt der auch... +++

+++ Kein Tag ohne "Gotschalk live"-Aufregungen in den engeren Nischen der Medienressorts. Jetzt echauffiert sich schmähvoll Markus Peichl, und zwar im Radiointerview mit dem RBB-"Medienmagazin", das aber dennoch video-gefilmt ist. Wer sich nicht sechs Minuten lang dafür interessiert: kress.de hat das Gespräch exzerpiert. +++ "In der manchmal sehr aufgeregten Debatte um 'Gottschalk live' wurde oft fälschlicherweise die Verschwendung von Gebührengeldern beklagt. Richtig und gleichzeitig ein wenig kurios ist stattdessen: Der Gebührenzahler zahlt nur dann für Gottschalk, wenn er aufhört am Vorabend" (dwdl.de).  +++ Kleine Ironie: "Während Markus Lanz sich anschickt, Thomas Gottschalk bei 'Wetten, dass...?' zu beerben, verwandelt Gottschalk seine Vorabendshow bei der ARD in eine Mini-Variante der Lanz-Talkshow beim ZDF" (meedia.de). +++ Und die TAZ bittet wegen in ihrer Indirektheit missverständlichen BAMS-Zitaten um Entschuldigung. +++

"Laufend und spürbar" verbessere sich Monica Lierhaus' Gesundheitszustand. Ihr "Platz an der Sonne"-Honorar verbessert sich nicht noch, bot ja aber auch schon wenig Luft nach oben (Tsp.). +++ "Wir orientieren uns im Allgemeinen ... nicht an einem Sensations-, sondern am Informationsbedürfnis der Zuschauer. Außerdem sind wir in den vergangenen Jahren deutlich politischer geworden", zieht Peter Kloeppel im Interview ebd. Bilanz seiner 20-jährigen Tätigkeit als Anchorman bei RTL, auch wenn er sich selbst gar nicht so nennt. (Und dass über dem Interview "Das macht meine Frau wahnsinnig" steht, heißt auch nicht, dass Kloeppel etwas tut, das seine Frau wahnsinnig macht). +++

+++ Um die "Midday-Briefings", mit denen die EU-Kommission ihre teure Pressarbeit betreibt, geht's im Aufmachertext der SZ-Medienseite. Dort gebe es nur Unmengen von Pressemitteilungen sowie "kunstvolles Nichtbeantworten von Fragen", klagt Cornelius Pollmer. "Die Midday-Briefings werden täglich im Internet übertragen, das sei 'Teil des Problems', sagt eine deutsche Journalistin und meint damit, dass die Sprecher eigentlich nur noch zitierbare Sätze äußern können". +++ Neue mutmaßlich in Rupert Murdochs Namen Schandtaten enthüllte die BBC, berichtet die TAZ. +++

+++ Während der Tsp. neue Unterstützung der Frauenquoteforderung vermeldet, geht es im ARD-Fernsehfilm "Halbe Hundert" mit Martina Gedeck zwar um Frauen, aber nicht um eine Quote. Doch geht es unter Rezensentinnen hoch her: "Ein großartiger Film über drei Frauen um die fünfzig", "ein leichtfüßiges und doch tiefgründiges Plädoyer für lebenslange Freundschaften", schwärmt Klaudia Wick (BLZ). "Aber nein, 'Halbe Hundert' führt uns wieder auf den alten, ausgetrampelten Pfad: Frauen fürchten sich davor, 'im erotischen Abseits' (Presseheft) zu landen", zeigt sich Barbara Sichtermann (Tsp.) genervt. +++ Was meinen Männer? "... für eine Komödie nicht komisch genug, für ein Drama nicht entschieden genug.... Die Figuren wirken, als habe man sie im Supermarkt der Klischees ausgerüstet, Bezüge zur Wirklichkeit sind beabsichtigt", so Christopher Keil in der Süddeutschen. +++ Ungewohnt kritisch auch Tilmann P. Gangloff hier nebenan. +++

+++ Der außerdem im KSTA ausführlich die Verdienstlagen von in Fernsehfilmen auftretenden Schauspielern (schlecht) und Hunden (im Vergleich gut) skizziert. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.