Von Frauen- und Einschaltquoten

Von Frauen- und Einschaltquoten

Viel los im Medienkessel: eine wuchtige Frauenquoten-Forderung, Reformtrubel und "Radioretter" in ARD-Anstalten, natürlich Präsitainment mit Vati Gauck und Christian Wulffs Schwiegermutter, sowie Humor für Leute mit Humor im "Spiegel". Und Mücken.

"Journalisten leben in der ständigen Angst, Wichtiges zu verpasen, Wesentliches zu übersehen, zu spät zu kommen. Im Fall der Nominierung von Joachim Gauck, 72, für das Amt des Bundespräsidenten war der SPIEGEL allerdings zu früh dran. Ein Titel im Juni 2010 zeigte Gauck, die Schlagzeile lautete 'Der bessere Präsident'; auch wenn es nichts nutzte, gewählt wurde bekanntlich Christian Wulff, 52."

Mit diesen Worten beginnt der aktuelle Spiegel, also die traditionsreiche "Hausmitteilung" auf Seite 3. Humor für Leute mit Humor sozusagen: Zwischen den Zeilen wirbt der Spiegel um Verständnis dafür, dass seine vorherige, wegen des Rosenmontags letzte Woche auf den Samstag vorgezogene Druck-Ausgabe vom Rücktritt des Bundespräsidenten Christian Wulff, 52, am freitag relativ kalt erwischt worden war (siehe Altpapier). Und weist ausgleichshalber, noch ein Stückchen tiefer zwischen den Zeilen, darauf hin, dass er schon im Juni 2010 die Position inne hatte, die er auch heute inne hat - scharf im Windschatten der Springer-Presse"Yes we Gauck" erschien am 6.6. in der Bild am Sonntag, der Gauck-Spiegel kam tags drauf heraus.

Kein Vorwurf, natürlich, im "Präsitainment" (Präsitainer Friedrich Küppersbusch im rituellen, Monika-Gruber-haft pointengesättigten TAZ-Interview) ist auch die Windschatten-Position hart umkämpft. Zum Beispiel scheint, wie Willi Winkler in der Süddeutschen beglossiert, die neue zweitneueste Springer-Wendung, in "Vati Gauck" (BamS) das Gegenstück zu "Mutti" Merkel zu erkennen, zwar von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, deren Haus Gauck sowieso als Werbeträger beschäftigt, aufgenommen worden, am Spiegel jedoch vorbeigegangen zu sein.
(Vollständigkeitshalber: Die neueste Springer-Wendung lautet "Bleiben Sie Gauck", wurde von F.J. Wagner gedichtet und enthält die grandiosen Zeilen "... Sätze werden aus dem Zusammenhang gerissen. Raben fallen mir ein. ...").

Doch immer wieder verhält es sich auch anders herum in der Tour de France der Leitmeiden. Kurz zurück zur eingangs zitierten Spiegel-Hausmitteilung. Unmittelbar im Anschluss heißt es:

"Ob Gauck nicht nur der bessere, sondern auch ein guter Präsident wird, wird die Redaktion kritisch und unparteiisch verfolgen. In dieser Ausgabe geht es um Wulffs Verfehlungen" - Wow! (spontane Anmerkung des Altpapiers) - "sowie den Streit der Regierungskoaltion um Gaucks Nominierung (Seite 20)."

Diese frischen Verfehlungen nahm auch die Springer-Presse, die Investigationsleistung des Spiegels korrekt würdigend, bereits gerne auf - schließlich geht es um Christian Wulff seine Schwiegermutter. (Und zweifellos arbeiten bereits Heerscharen von Fernseh-Gagautoren an ihrer, der Meldung, Veredelung).

[+++] Blättern wir bis fast ans Ende des Spiegels, auf seine Medienseite. Dort erzählt der Spiegel einerseits nach, was vorige Woche Ulrike Simon vor dem "Gipfeltreffen" der fünf ARD-Talkshows in München so aus der Gästedatenbank vorerzählte, kennt aber auch das Ergebnis dieses Treffens (das wir seiner Brisanz wegen in den Altpapierkorb verlegen). Denn außerdem weist der Spiegel auf die neue Webseite pro-quote.de hin, die seit dem Wochenende fordert, dass "mindestens 30 Prozent der Führungspositionen in den Redaktionen im Laufe der nächsten fünf Jahre mit Frauen besetzt werden".

Völlig medienübergreifend, von Frauke Ludowig bis Ines Pohl fordern dies eine Menge prominente Medienfrauen. Insofern kein Wunder, dass diese Initiative heute schon sehr prominent in den Medien ist, zum Beispiel vorn auf der TAZ zugespitzt (und kurz dahinter von Steffen Grimberg ausgebreitet), zum Beispiel bei Carta, wo alle Erstunterzeichnerinnen, denen inzwischen auch Männer folgen können und gefolgt sind, alphabetisch aufgelistet werden.

"Nein, es gebe bei dieser Aktion keine Rädelsführerinnen. Der Aufruf folge allein 'dem Guerilla-Prinzip. Es gibt keine Initiatorinnen und keine Sprecherinnen. Die Aktion hat sich nach dem Schneeballprinzip durch die Republik gesprochen'", zitiert Carta eine Beteiligte. "Man liegt aber wohl nicht falsch, wenn man den Ausgangspunkt rund um Hamburger Verlagshäuser vermutet", fügt Katharina Riehl in der Süddeutschen hinzu. Schon daher, weil Spiegel-Chefredakteur Georg Mascolo am gestrigen Sonntag in einer "Was bewegt Deutschland?"-Veranstaltung mit der Bundesarbeitsministerin und "Quoten-Befürworterin" Ursula von der Leyen talkte, so Riehl. Außerdem zitiert sie Unterzeichnerin Sandra Maischberger mit den Worten: "In manchen Bereichen - zum Beispiel in den Intendanzen der ARD - ist (...) einiges passiert, aber es fehlt noch vieles".

[+++] Zweifellos kein Gender-, sondern ein Unisex-Strukturen-Problem, dass es in zwei intendantinnengeleiteten ARD-Anstalten derzeit intern besonders rumort. Erstens in Dagmar Reims RBB (siehe Altpapier sowie BLZ kürzlich). Heute schürt der Tagesspiegel Verwirrung, indem er unter Berufung auf die DPA meldet, dass einerseits der Sender durch Programmänderungen "mehr Platz für regionale Reportagen und Dokus schaffen" wolle, und andererseits Reim mit der Aussage "Wir haben Defizite bei dem, was man das Leichte nennt. Das Leichte, das Unterhaltsame, ist schwer zu machen. Da müssen wir nachlegen" zitiert. Da wünscht Reim sich keine Frauen-, sondern weniger schlechte Einschaltquoten. Leichte regionale Reportagen - das wäre eine bemerkenswerte Quadratur des Kreises, zumal der RBB dritterseits ja auch noch und vor allem sparen muss.

[+++] Noch einen stark unterzeichneten Offenen Brief gibt es seit Freitagnachmittag an die WDR-Intendantin Monika Piel. Auch wenn es primär weniger um Fernsehen geht, sondern um das Radioprogramm WDR 3, schließt seine Kritik an der Reduzierung anspruchsvoller Programme zugunsten vermeintlich publikumsattraktiverer inhaltlich nahtlos an das an, was auch Reim und viele Sendeanstaltenleiter bewegt:

"... Nicht einmal das Argument, man könne mit weniger Qualitäts-Einschaltradio und mit mehr Begleitmusik auch mehr Hörer gewinnen, stimmt. Im Gegenteil: Die Hörerzahlen sind weiter gesunken. Auch Sie kommen deshalb an der Erkenntnis nicht vorbei: Die allmähliche Zurichtung eines anspruchsvollen Kulturprogramms in ein leicht konsumierbares Häppchenangebot ('Kultur to go') ist nicht nur schädlich, sondern auch gescheitert",

argumentiert die Initiative, die sich "die Radioretter" nennt. Ein noch längerer Antwortbrief des WDR-Hörfunkdirektors Wolfgang Schmitz sowie ein Bericht des Kölner Stadtanzeigers liegen auch bereits vor.

[listbox:title=Artikel des Tages[pro-quote.de##Süddeutsche darüber##Offener Radioretter-Brief##Vati-Gauck-Trend (SZ)##Bruhns-Interview u.a. über Mücken (Tsp.)]]

[+++] Zurück zum Frauenquoten-Aufruf. Zu den Unterzeichnerinnen zählt Wibke Bruhns, die sich als "erste deutsche Nachrichtensprecherin", 1971 im ZDF, in die nationale Mediengeschichte eingeschrieben hat. Zurzeit ist sie wegen ihres neuen Buches auf Interviewtournee. Am gestrigen Sonntag gastierte sie in gleich drei Zeitungen.

Das früher als Bums-BamS beworbene Springer-Blatt wollte nur das Eine von ihr wissen (was denn nun mit Willy Brandt war). Die FAS fragte eher medienhistorisch und förderte zutage, dass Bruhns den Stern, für den sie dann 14 Jahre lang arbeitete, heute wegen all der Esoterik-, Partnerschafts- und Burnout-Geschichten nicht mehr liest.

Dieses Interview steht derzeit nicht frei online, aber das interessanteste gestrige Bruhns-Interview. Barbara Nolte vom Tagesspiegel fragte u.a. nach dem heutigen politischen Betrieb, und Bruhns antwortet:

"Es gibt in der Politik mittlerweile Dynamiken, die ich nicht leiden kann. In diesen Online-Nachrichtendiensten muss alle zwei Stunden etwas Neues stehen mit dem Ergebnis, dass aus Mücken Elefanten werden. Wenn FDP-Chef Philipp Rösler einmal in seinem Leben etwas Gescheites sagt: dass die FDP für Joachim Gauck als Bundespräsident ist, dann ist die Kanzlerin ungehalten. Schon erzählen alle Unionschristen, wie ungehalten die Kanzlerin ist. Tagelang heißt es: Missstimmung in der Koalition. Die Kanzlerin hat die Koalition infrage gestellt. Hat sie nicht. Hat sie doch. Wir haben es tagelang mit einer Mücke zu tun. Ja, können die nicht den Mund halten?" (Hervorhebung: AP)

Die Überschrift lautet übrigens "Wir werden nicht lange froh sein mit Gauck", denn auch zum Präsitainment, das zum großen Teil darin besteht, alles, was Gauck bisher einmal geredet hat, weiter zu zerreden, hat Bruhns recht Fundiertes beizutragen.


Altpapierkorb

+++ In der Talkshowgästedatenbank der ARD dürfte Bruhns als Gast der nächsten Reinhold-Beckmann-Show auftauchen, zumindest der Webseite ihres Verlags zufolge. Hier die versprochene Auflösung dessen, was beim ARD-Krisengipfel herauskam: "Am Ende berichten Teilnehmer waren die Abgesandten Jauchs die einzigen, die auf die Datenbank verzichten wollten. Eine bessere Idee hatten sie aber auch nicht". Meldet der Spiegel (S. 143). +++ Hölle hingegen, was der Donnerstagabend-Fernsehtalk (aber nur im ZDF!) noch nach sich zog: Eine enorme Breitseite Michael Hanfelds gegen Markus Lanz und dessen Gast Philipp Rösler ("Das ist das Ende des Journalismus"), die sogar Ex-FAZ-Kollege Stefan Niggemeier in seinem Nicht-Spiegel-Blog nicht uneingeschränkt teilen würde ("Michael Hanfeld ist relativ leicht zu erregen, und ich würde nicht jede Wertung in seinem Artikel unterschreiben..."). +++ Andererseits zuvor bei Illner die von Jürgen Trittin wegen Deniz Yücels Gauck-Kommentar aufgeworfene "Schweinejournalismus"-Debatte, die zumindest die TAZ selbst (tolles Symbolfoto) beschäftigt. +++

+++ Digitalia: Dass die deutschen Verlegerverbände BDZV und VDZ ihre "Fair Search"- und "Fair Share"-Beschwerde gegen Google vom Bundeskartellamt zur Europäischen Kommission "verlagert" haben, wo nämlich auch "Beschwerden aus anderen europäischen Ländern ...anhängig" seien, zum Beispiel aus Spanien, meldet die Medienseite der Süddeutschen. Und online z.B. der Standard. +++ In Spanien hat eine Zeitung ihre Druckausgabe aufgegeben, um nur noch online zu erscheinen (ebd., ftd.de). +++ Was Google, Apple und Facebook z.B. mit Fußballrechten aus der vierten englischen Liga im Schilde führen, erläutert Noch-ZDF-Intendant in einem Focus-Interview Markus Schächter (Kurzfassung). +++

+++ In England hat eine neue Zeitung das Licht der Welt erblickt: Rupert Murdochs Sun on Sunday. Korrespondentenberichte dazu in der TAZ von Ralf Sotscheck, im Tsp. von Matthias Thibaut ("In Großbritannien ist die Phase der Empörung über dubiose Praktiken der Zeitungen nun der Sorge um die Presse und ihre Freiheit gewichen. In Murdoch sieht man sogar einen Verteidiger bester Zeitungstraditionen") und in der SZ ("Erster Gewinner der Markteinführung der Sun on Sunday waren die kommerziellen englischen Fernsehsender: Vergangenen Dienstag startete News International eine Vielzahl von Fernsehspots für das neue Sonntags-Boulevardblatt..."). +++ Dass Murdoch "auf beispiellose Weise den Journalismus verludern ließ" und eigentlich gebasht gehörte wie Christian Wulff, schreibt auf vocer.org [dessen Redaktionsleitung ich vertretungsweise übernommen habe] Stephan Ruß-Mohl. +++

+++ "Der Mensch tritt David Gelernter zufolge gerade aus dem Zeitalter der universellen Alphabetisierung in das des universellen Publizierens über", das hat das FAZ-Feuilleton (S. 25) bei der "Berliner Lektion" Gelernters gelernt. +++

+++ "Mehrmals wird der Film untermalt mit der Titelmelodie der legendären Fernsehserie 'Twin Peaks' von David Lynch. Aber wer nun erwartet, dass, wie bei dem amerikanischen Regisseur, eine Holzfäller-Idylle mit ihrer unheimlichen Nachtseite dräut, sieht sich angenehm enttäuscht. Hubert Seipel verzichtet auf eine Dämonisierung des 'Systems Putin". Dies schreibt die FAZ-Medienseite zur ARD-Doku "Ich, Putin", über die Altpapier-Autor René Martens in der TAZ eine Art Making-of liefert und von nächtlichen Kamingesprächen weiß, die weniger der Filmautor als Filmthema Wladimir Putin wünschte. +++ Maria Speths erstaunlichen Dokumentarfilm "9Leben" über Straßenkinder in Berlin, spät im ZDF (23.55 Uhr), empfiehlt der Tsp.. +++

+++ Und bei "Ex-Juror attackiert 'Topmodel'-Show: Manchen Mädchen fehlt 'jegliches Talent zum Modeln'": handelt es sich um eine heiße Spiegel-Meldung, sofern sie nicht Martin Sonneborn oder ein Fehlerteufel im Redaktionssystem irrtümlich aus dem Spam-Ressort in die Vorabmeldungen versetzt haben. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Dienstag.