Keine Zusammenhänge

Keine Zusammenhänge

Texte sind keine Ölsardinen, bloß liegen im Internet halt sehr sehr viele dicht nebeneinander. Heute geht's um eine ältere Gauck-Rede und Gerichtsreporter, um getötete Kriegsreporter und die Abkommen namens ACTA und IPRED. Sowie natürlich um Talkshows.

"Zum Kontext eines Zitates aber gehört mehr als nur die Sätze, die ihm vorangehen oder nachfolgen; das unterscheidet einen Text ja von einer Büchse Ölsardinen. Und einen Text zu kontextualisieren bedeutet, ihn zu deuten: Wer sagt was in welcher Form an welcher Stelle zu welchem Zweck zu welchen Leuten, die ihn wie verstehen können oder sollen?"

Deniz Yücel ist's, der hier auf der alten Zeitungen-sind-keine-Marmeladenfabrik (oder Medien-sind-keine-Jeans)-Ebene argumentiert, und zwar gegen Sascha Lobo, dessen Zitatkaskade-Analyse zur Gauck/ Medien-Lage gestern an dieser Stelle empfohlen wurde. Yücel wurde darin kritisiert und antwortet nun auf taz.de mit einer online ausführlicheren, gedruckt kürzeren Replik, in der es dann auch um sein, Yücels, "Kopfkino" zu einer Joachim-Gauck-Rede von 2006 (bzw. zu deren sauber verlinktem Online-Widerschein in der Gegenwart) geht, in der es um den Holocaust ging. Am Ende wirft er Gauck vor, "Verharmlosung des Holocausts" betrieben zu haben.

Man tut Yücel vielleicht kein Unrecht mit der Behauptung, er sei immer dann besonders gut, wenn er es ironisch meint oder meinen könnte, was in diesem Artikel nicht oder kaum der Fall ist. Aber als Beitrag zum Fortschreiben eines Kaskadenstrangs ist er lesenswert. Außerdem lässt sich daraus lernen, dass Zitate ruhig öfter in ihren Kontexten belassen werden sollten und nicht immer neue Zusammenhänge hergestellt werden müssen.

In diesem Sinne schlägt sich das Altpapier heute durch den aktuellen Medienthemendschungel. Es geht um tote Kriegsreporter, Jürgen Todenhöfer, Gerichtsreporter zwischen vielen (metaphorischen) Fronten, das ACTA-Abkommen, kommende und gehende Talkshows, die Filter-Bubble der Journalisten. Keine oder wenig Zusammenhänge.

[+++] "Marie Colvin war eine erfahrene Kriegsreporterin, aber was nützt Erfahrung gegen den Flug von Granaten", schreibt Claudia Tieschky im Bericht der Süddeutschen über die in Syrien getöteten Kriegsberichterstatter aus dem Westen. Außer Colvin, der "Kriegsreporterin mit der Augenklappe" (Welt), starb auch der französische Fotograf Remi Ochlik, dessen Webseite im Moment hakt wieder funktioniert (siehe Screenshot), aber anders als Ochlik selbst sicher wieder in Gang kommen wird.

Rupert Murdochs Presseimperium, das ja auch seriöse Titel enthält, hat aus dem traurigen Anlass "Colvin's Final Piece Outside Of Pay wall" released, wie es huffingtonpost.com formuliert: hier, "We live in fear of a massacre".

Außerdem bemerkenswert in dieser Sache: der gestrige "Tagesthemen"-Kommentar dazu bzw. zum aktuellen Syrien-Bericht. Ganz anders als dort gewohnt wiederholte Golineh Atai nicht, was in ungefähr denselben Worten schon im vorhergehenden Bericht gesagt worden war, sondern hob mit dem Satz "Es ist schon erstaunlich, was wir in diesen Tagen in der Zeitung lesen" an, den bekannten Bestseller-Autor und Talkshowgast sowie ehemaligen Burda-Manager Todenhöfer als "Abenteuertourist" zu kritisieren.

In welcher Zeitung? Für die FAS hat Todenhöfer den Artikel "Die syrische Tragödie" verfasst, in dem er - was Atai dann kritisierte - den syrischen Aufstand als "vom Westen finanziert" bezeichnete. Faz.net hat den Text nicht frei online gestellt, aber Todenhöfer, wie freitag.de weiß, auf seine Facebook-Seite.

[+++] Zu etwas völlig anderem: "Da haben die Acta-Gegner noch einmal Glück gehabt. Eigentlich war ihr Protest schon wieder aus den Schlagzeilen verschwunden", wegen Wulffs Rück- und Gaucks Antritt, schreibt Meike Laaff vorn auf der TAZ zur netzpolitischen Entwicklung, dass der Europäischen Gerichtshof das umstrittene Abkommen nun erstmal überprüfen soll. Ein seltsames Argument, schließlich sind weder die deutsche und die europäische Öffentlichkeit identisch, noch die deutschen ACTA-Gegner führend in Europa.

Jedenfalls ist ACTA inzwischen im Mainstream der Medienöffentlichkeit angekommen. Das verdeutlicht mit gewohnter Kraft z.B. Herbert Prantl auf der Meinungsseite der Süddeutschen. Die exklusive Print-Überschrift lautet "Acta ist die Lok" - nämlich "die Lokomotive, die die Waggons mit dem Gefahrgut ziehen soll", und mit dem Gefahrgut ist das nächste Akronym gemeint, das sich Digitalmedienbeobachter einprägen sollten: IPRED, also "Intellectual Property Rights Enforcement Directive". Siehe netzpolitik.org 2011, das Prantls Kommentar erfreut registriert hat.

Vielleicht bemerkenswerter aber ein Kommentar im FAZ-Wirtschaftsressort, wo man eigentlich ja Sympathisanten des Abkommens erwarten würde, aber nicht Rechtsempfindens-Analyse:

"So wenig wie die meist jüngeren Nutzer daran glauben, dass es die Musikschaffenden sind, deren Rechte verletzt werden, so wenig mögen Ältere, etwa als Väter und Mütter, akzeptieren, dass ihre Kinder für das Herunterladen und Tauschen von Musiktiteln im Netz kriminalisiert werden. Gesetze aber, die dem Rechtsempfinden zuwiderlaufen, sind auf die Dauer nicht durchzusetzen; mehr noch: Sie zerstören den Glauben an die Gesetzlichkeit. Somit besteht die Gefahr, dass das ohnehin schon problematische Verhältnis der Bürger zum Staat weiteren Schaden nimmt",

schreiben Guy Kirsch und Volker Grossmann, Professoren an der Universität im schweizerischen Freiburg bzw. Fribourg.

[+++] Wenn wir nun beim Rechtsempfinden sind..., bzw.: Zu etwas völlig anderem, dem vergangene Woche gefallen Kachelmannberichte-Urteil des Kölner Oberlandesgerichts, das zum "großen Elend für die Medien werden" könnte, wie Hans Leyendecker schrieb (siehe Altpapier) hat sich nun ausführlich Spiegel-Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen geäußert.

Ihr Beitrag auf dem Portal vocer.org [Offenlegung: dessen Redaktionsleitung ich urlaubsvertretungsweise übernommen habe] schildert ausgeruht die Fronten bei von den Medien für wichtig gehaltenen Prozessen: von Staatsanwälten, die "möglichst hell und freundlich gekleidet" vor Kameras für ihre Anklagen werben, über Medienanwälte und zur "Pflege" der Berichterstatter engagierte Medienberater bis zu Sendern und Verlagen, die "die Klicks ihrer Online-Nutzer" zählen und "entsprechend häufige Berichterstattung" verlangten.

[listbox:title=Artikel des Tages[Colvins letzter Artikel (engl., Sunday Times)##Ochliks Webseite##Prantl gegen ACTA##FAZ-Wirtschaft gegen ACTA##Friedrichsen zu Medien/Justiz (vocer.org)##Niggemeier zur RBB-Lage (SPON)]]

[+++] Zu etwas völlig anderem: "Die Talkshowflut im Ersten hat ihr erstes Opfer", schreibt auf Spiegel Online Stefan Niggemeier, "aber es heißt nicht Reinhold Beckmann oder Frank Plasberg, sondern Marco Seiffert". Und sendet im RBB-Fernsehen bislang noch mit "angenehm genreuntypischer Schluffigkeit".

SPON-Informationen zufolge sei beim RBB eine Programmreform im Gange, die von nicht namentlich genannten Mitarbeitern des Berlin-Brandenburger Senders als "nie dagewesener Kahlschlag" bezeichnet wird. Generell das Genre abzuschaffen plant der RBB leider nicht, "die ebenfalls nicht gut laufenden" Talkshows mit Jörg Thadeusz und Dieter Moor seien nicht bedroht.

Und wie das so ist: Geht eine Talkshow, bereichert eine neue die Flut. Frisch von deren Präsentation in einem "Berliner Szene-Restaurant" macht der Tagesspiegel zumindest Talkshowjunkies gespannt auf das Anfang März beim ZDF-Digitalnischensender "ZDFkultur" startende, angeblich an Markus Lanz orientierte Format mit Charlotte Roche und Jan Böhmermann. Es heißt, wie es sich für unschluffige Talkshows gehört, so wie die Talker selbst heißen: "Roche & Böhmermann". Vielleicht war einfach das Marco Seifferts Fehler. Dessen Show hieß bzw. heißt noch "Klipp und klar".
 


Altpapierkorb

+++ Zurück zu etwas völlig anderem, dem ganz großen Ganzen. Gibt es eigentlich "die Netzgemeinde"? Nein, würde Thilo Specht, bloggender Manager mit imposanter Nerd-Brille sagen. Auf handelsblatt com (als Antwort auf Stephan Dörners Beitrag "Die Netzgemeinde lebt!" ebd.) spricht er, sozusagen in Fortführung der Filterbubble, in der sich ja auch Gauck virtuell befindet, von der "Filter-Bubble der Journalisten": "Wenn in den privatöffentlichen Diskussionen immer nur die selben twitternden Protagonisten als Sprecher einer Netzgemeinde wahrgenommen werden, hat das wenig mit der Realität zu tun." +++

+++ Topthema der FAZ-Medienseite: Die Nachricht, mit der "für heute zu rechnen" sei, dass die ProSiebenSat.1 AG ihren "für die deutschen Sender zuständigen Vorstand in die Wüste", eine metaphorische natürlich, schickt. Zwei Spalten lang eruiert Michael Hanfeld, "was der Schritt zu bedeuten hat", und gelangt zum Ergebnis, dass "im von Finanzinvestoren bestimmten, auf der Informationsstrecke schon merklich ausgedünnten Privatfernsehen... eine neue Ära" anbrechen könnte, "in der die Zahlen noch mehr und die - linearen - Programme noch weniger zählen." +++

+++ Topthema der TAZ-Medienseite: die geheimen Verleger/ Rundfunkanstalten-Verhandlungen über das, was die Öffentlich-Rechtlichen im Netz dürfen sollen. Steffen Grimberg, gestern auch der Star in einem dennoch recht nichtssagenden Bericht des NDR-Medienmagazins "Zapp" zum selben Thema, stellt den BR-Intendanten Ulrich Wilhelm als "Verlegerflüsterer" vor. +++

+++ Noch ein aktueller Fernsehtrend neben dem zur Talkshow: die Castingshow! Heidi Klums neue GNTM-Staffel dürfte besser laufen als das Konkurrenzprodukt von Eva Padberg und Karolina Kurkova, meint Sonja Pohlmann (Tsp.), denn "Zuschauer lassen sich nicht klonen" und schalten im Zweifel das Original ein. +++ Eine Sendung, die sich am Dienstagabend u.v.a. über Klum lustig machte (siehe auch Altpapier gestern), bespricht die Süddeutsche heute auf der Medienseite: "Monika Gruber und ihre viel zu vielen Mitkomiker und überdrehten Außenreporter" hätten in "Leute Leute" (ZDF) "den anfangs noch knackigen Satire-Salatkopf in kürzester Zeit zum Welken gebracht haben", heißt es in der Zeitungskritik ähnlich wie in der zuvor erschienenen, nicht identischen Online-Kritik. +++

+++ Noch'n Thema der Süddeutschen (S. 15) : all die neuen Frauenzeitschriften, nämlich Closer (Bauer-Verlag, vgl. auch kress.de: "Bauers Banalitäten-Kabinett", "...rührt inländischen Promi-Tratsch mit Schicksals-Trash und Hausfrauentipps zusammen", SPON), Freundin Wedding (Burda) und die eigentlich schweizerische Faces. "Unisex, sagen Zeitschriftenmacher, unisex geht in Deutschland gar nicht mehr, und sie meinen nicht diese Latzhosen für Männer wie Frauen aus dem Museum des Geschlechterkampfs. Sie meinen Lifestyle-Magazine wie Vanity Fair, Park Avenue, Tempo. Alle für beide, alle weg", heißt es im SZ-Artikel. +++

+++ Womit wir, um doch noch einen Zusammenhang zu strapazieren, bei Markus Peichl, der seinen Ruhm einst bei der Unisex-Zeitschrift Tempo begründete und nun also (siehe AP gestern) bei Thomas Gottschalks ARD-Show weiter verzehren wird. Kurz vermeldet das die TAZ, länger der Tagesspiegel, der sein Ohr stets eng am Puls des Humboldt-Carrés (in dem die Show produziert wird) hat: "Schon wird in der Redaktion gekündigt. Was fehlt, ist der Glaube an den Erfolg. Auch da ist Coach Peichl gefragt". +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.