Urteilebeurteilungen

Urteilebeurteilungen

Neues aus der Medienjustiz: "Pressevertriebsfreiheit" könnte künftig vor Pressefreiheit gehen; aus Gerichtsverhandlungen zu zitieren, könnte erheblich schwieriger werden.

Es wurde kräftig geurteilt am Dienstag in Köln, vor dem Landgericht, dem Oberlandesgericht. Die Auswirkungen der Urteile auf die Presse werden in derselben und unter denen, die ihr mit Sympathie zur Seite stehen, durchaus beunruhigt abgewogen.

Was das Landgericht gestern zum schon öfter vor Gericht aufgetauchten Thema Pressegrosso entschied (zusammengefasst in der TAZ), "wird ein seit Jahrzehnten etabliertes System verändern" (Süddeutsche). "Der Aufprall für das deutsche Pressewesen dürfte hart ausfallen", meint Jan Hauser in der FAZ (Seite 33), bevor er sich vom Condé-Nast-Geschäftsführer Moritz von Laffert die Vorzüge des deutschen Grosso-Systems erläutern lässt.

Was die relative Brisanz des Urteils zum Ausdruck bringt, ist die schnelle Reaktion von allerlei Interessenverbänden sowie Politikern. Es gibt eine einzelne Erklärung des DJV, eine gemeinsame Erklärung der Presseverlegerverbände BDZV, VDZ sowie des Bundesverbandes Presse-Grosso und eine darüber hinausgehende des letztgenannten Verbandes, die am Ende mit dem Schwurbelsatz

"Die Überlegungen und konkreten Schritte mit dem Ziel einer politischen Absicherung eines unabhängigen Pressevertriebssystems würden mit dem Kölner Urteil signifikant an Relevanz und Dringlichkeit gewinnen"

aufrütteln möchte. Tatsächlich schritten auch schon Politiker zu Erklärungen. Den griffigsten Ansatz, das komplizierte Grossosystem zu erklären, greift aktuell Tabea Rößner, Sprecherin für Medienpolitik der Grünen, auf. Sie sieht die "Netzneutralität der analogen Welt gesprengt" und gibt auch noch konkrete Beispiele:

"Bürgerinnen und Bürger bekommen im Zweifel nicht mehr das ganze Sortiment angeboten. Wenn man sich nur noch zwischen 'Welt' und 'Hamburger Abendblatt' oder 'Bravo' und 'Maxi' entscheiden kann, ist unsere Informationsfreiheit eingeschränkt."

Woher die Netzneutralitäts-Metapher stammt? Aus dem Munde des Journalistik-Professors Michael Haller gegenüber Altpapierautor René Martens (siehe TAZ aus dem Oktober bzw. das Altpapier "Netzneutralität fürs Totholz").

Da für die SPD, außer natürlich Marc Jan Eumann, gar die Netzpolitiker-Fraktion dem Grosso ihre Solidarität übermittelt, lässt sich vielleicht sogar ein Paradigmenwechsel daran festmachen: Inzwischen wird nicht mehr das Internet mit Begriffen aus den klassischen Medien erklärt, sondern mit Begriffen aus dem Internet, warum noch mal welche Errungenschaften der gedruckten Presse wichtig sind und bleiben sollten.

Die an der Bundesregierung beteiligten Parteien haben sich aktuell scheinbar noch nicht dazu geäußert, sind grundsätzlich ja aber auch fürs bestehende Grossosystem. Um Ihnen an dieser Stelle das ganze Sortiment an Erklärungen zu bieten: Der einstweilen siegreiche Bauer-Verlag hat auch eine veröffentlicht. Und sich darin etwas geleistet, was in seinen Zeitschriften eher selten vorkommt: ein Sprachspiel. Der von vielen Pressegrosso-Befürwortern gern im Mund geführten Pressefreiheit (z.B. im oben verlinkten SZ-Artikel) stellt er darin die nun gestärkte "Pressevertriebsfreiheit" entgegen.

[+++] Diese Sache wird voraussichtlich vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf in Berufung gehen, kündigten die Grossisten bereits an. Das OLG zu Köln fasste gestern ein ebenfalls ein Urteil, dessen Revision vor dem Bundesgerichtshof möglich ist. Und vermutlich beantragt werden dürften. Denn verloren hat die streitlustige Springer-Presse. Denn die grundsätzliche, "für den Alltag der Gerichtsberichterstattung sehr komplizierte Entscheidung" des OLG könnte "zum großen Elend für die Medien werden", wie Hans Leyendecker in der Süddeutschen meint.

[listbox:title=Artikel des Tages[SZ über die Gefahr fürs Grosso####...über die für Gerichtsreportagen##Rößner (Grüne) über die fürs Grosso##Eleftherotypia in Selbstverwaltung (TAZ)]]

Gewonnen hat Jörg Kachelmann. "Die Medien hätten Umstände aus dem privaten Lebensbereich des damals Angeklagten nicht ohne weiteres verbreiten dürfen, auch wenn sie in der Verhandlung angesprochen wurden", lautet der Kern dieses Urteils (TAZ-Zusammenfassung).

Leyendecker nun lässt es an Mitgefühl für Kachelmann, aus dessen richterlicher Vernehmung "über einvernehmlichen Sex mit jener Ex-Geliebten ..., die ihn später angezeigt hatte", zitiert worden war, nicht mangeln. Er sieht aber auch folgende Veränderungen vorher:

"Künftig könnte es für Journalisten riskant sein, aus einer öffentlichen Hauptverhandlung genau zu berichten. Bislang wurde nur immer wieder mal diskutiert, ob Namen von Zeugen genannt werden dürfen oder nicht. Die Erörterung strittiger Sachverhalte in der Hauptverhandlung fiel bislang nicht unter solche Einschränkungen."

Schuld daran sei aber schon auch die Presse selbst, urteilt Leyendecker, die die Gerichtsberichterstattung vor allem als "Anfängerpiste für Volontäre und Freie" benutze.

Wenn wir nun schon so tief in der deutschen Medienjustiz stecken, bleiben wir dabei:

[+++] "Die technischen und organisatorischen Anforderungen des § 9 Bundesdatenschutzgesetzes zur Gewährleistung des Datenschutzes nicht erfüllt" sieht der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Peter Schaar, beim Einsatz des sog. Staatstrojaners. Sein Bericht ist noch nicht veröffentlicht. Doch hat Johannes Kuhn im SZ-Digitalblog verfügbare DPA- und andere Informationen verknüpft. Ein Prozess ist deswegen natürlich nicht im Gange.

[+++] Aber vorm Landgericht Erfurt. Dort geht's mal wieder um Betrügereien beim ebendort ansässigen Kinderkanal. Verhandelt wird nun gegen einen ehemaligen Geschäftsführer der ehemaligen Berliner Produktionsfirma Koppfilm (siehe film-tv-video.de). Steffen Grimberg berichtet in der TAZ ausführlich und konsequent im ein wenig anstrengenden Sendung-mit-der-Maus-Sound.

[+++] Vorm Landgericht München indes unterlag die fraktionslose bayerische Landtagsabgeordnete Gabriele Pauli gegen den Bayerischen Rundfunk: "Die ehemalige Fürther Landrätin muss es dulden, dass Fotos von ihr in aufreizenden Posen und mit Latex-Handschuhen auch nach fünf Jahren noch gezeigt werden", berichtet welt.de schon deswegen gern, weil das als Anlass für die Wiederverwertung älterer Fotogalerien taugt.

[Dass diese Fotos einst in der deutschen Vanity Fair erschienen seien, wie ich hier zunächst behauptete, stimmt natürlich nicht - danke für den Hinweis; sie erschienen in der inzwischen ebenso ehemaligen Park Avenue.]


Altpapierkorb

+++ "Dutzende Verlage stellen seit zwei Jahren sukzessive ihr Programm ein. Die Zeitungen Agrolambos und Die Welt des Investors haben dicht gemacht, die Tageszeitung To Vima erscheint nur noch wöchentlich. Sogar das Fernsehen kränkelt: Der private Sender ALTER, vergleichbar mit dem deutschen ProSieben" - wenn auch nicht dem Namen nach! - "hat krisenbedingt seit Anfang 2011 keine Gehälter ausgezahlt...": Diese Medienapokalypse natürlich aus Griechenland schildert die TAZ auf ihrer dritten Seite in einem dennoch positiv gestimmten Kontext, nämlich dem, dass "eine der größten liberalen Tageszeitungen Griechenlands", Eleftherotypia, "heute erstmals wieder erscheint. Produziert in Selbstverwaltung von der Belegschaft." Aus der Onlineausgabe stammt unser Foto oben. +++

+++ Der 64-jährige Verleger Ragip Zarakolu sitzt seit dem 1. November in Untersuchungshaft "und weiß immer noch nicht, was ihm eigentlich vorgeworfen wird. Er ist einer von hunderten Verhafteten im sogenannten KCK-Verfahren", und wird im TAZ-Bericht über die weiter finstere Lage der Pressefreiheit in der Türkei exemplarisch vorgestellt. +++ Finsterer freilich: Saudi-Arabien. Der Blogger und Journalist Hamza Kashgari, dem wegen seines an den Propheten Mohammed gerichteteten Tweets "Ich habe Sachen an dir geliebt und ich habe Sachen an dir gehasst und es gibt viel, was ich über dich nicht verstehe" die Todesstrafe droht (siehe auch SPON), wird auf der SZ-Meinungsseite und der FAZ-Medienseite vorgestellt. +++ Frankreich: Auf der Süddeutsche-Medienseite berichtet Stefan Ulrich von der "Hochzeit des Figaro mit Sarkozy", also der vom Rüstungs- und Luftfahrtunternehmer Serge Dassault besessenen Tageszeitung mit dem wahlkämpfenden Präsidenten. Doch "nie zuvor in einem französischen Wahlkampf spielte das Netz eine solche Rolle", andererseits. +++

+++ Um Mainz kreist die prallvolle FAZ-Medienseite: Links ein ausführlicher Bericht über das Institut für Publizistik zwischen Noelle-Neumann-Vergangenheit und der Zukunft, in der es zunächst (im Herbst) ins neue Georg-Forster-Gebäude der Johannes-Gutenberg-Universität umziehen soll. +++ Rechts oben eine im Vergleich kleine Michael-Hanfeld-Glosse, der einerseits die neue rheinland-pfälzische Landesmedienwächterin Renate Pepper begrüßt ("Mit der Besetzung der früheren SPD-Landtagsabgeordneten ..., die sich schon in den Ruhestand verabschiedet hatte, beweist die von Kurt Beck geführte Landesregierung einmal mehr, was die Landesmedienanstalt in ihren Augen ist - ein Machtinstrument, das in die Hände von Parteisoldaten gehört, und hole man sie auch vom Altenteil") und andererseits das schwierige Thema der Drittsendezeiten, das auch gestern hier beim Alexander-Kluge-Geburtstag mitschwang und künftig von der Justiz zu beurteilen sein wird (vgl. digitalfernsehen.de) streift. +++

+++ Ferner empfiehlt die FAZ-Medienseite 33 "Die rote Traumfabrik" heute um 22.10 Uhr auf Arte, passend zur aktuellen Berlinale-Retrospektive. +++ Und auf der DVD-Seite 31 empfiehlt Dominik Graf Zbynek Brynychs "Nacht von Lissabon" nach Erich Maria Remarque. +++

+++ Nicht unbedingt empfiehlt Helmut Mayer ebd. (S. 29) Silke Burmesters "heute bei Kiepenheuer & Witsch erscheinendes schmales Heftchen". +++ Zu ihrer heute ebenfalls erscheinenden TAZ-Kolumne kann man aber ruhig mal klicken. +++

+++ Und falls jemand einen Artikel lesen möchte, der mit dem Satz beginnt "Um die wichtigste Frage gleich zu Beginn zu beantworten: Nein, Peter Hintze trug in der Sendung von Frank Plasberg am Montagabend nicht dieselbe Krawatte wie am Sonntagabend in der Sendung von Günther Jauch", und wenig später mit "Sonst weiß man ja auch als Fernsehkritiker nicht so genau, wie man das jetzt eigentlich finden soll" fortfährt - im Tagesspiegel wäre er zu haben. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.