Pest-/ Cholera-Fragen

Pest-/ Cholera-Fragen

Nimmt die Bild-Zeitung Christian Wulffs Entschuldigung an und wäre sie die, der sie gebührt? Frisches, bewährt mittelmäßiges Buprä-Entertainment hinter bizarren Sperrfristen, mit Uli Deppendorf und Bettina Schausten live on tape aus Waterloo.

Der Wulff-Wahnsinn geht weiter. Medial betrachtet, bedeutet das vor allem, dass in der Summe eher wenig, streng limiitierter Content auf das Erschöpfendste referiert und "dokumentiert", analysiert und reflektiert wird. Immerhin übernahm das Limitieren nicht mehr die Springer-Presse, die ihre Infos an befreundete sog. Qualitätszeitungen durchsickern lässt, sondern zur besten Sendezeit das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Das ist immerhin keine Pest-/ Cholera-Situation mehr, wenn auch natürlich anfechtbar:

"Welcher Teufel hat den Bundespräsidenten geritten, seine Sicht der Dinge ausgerechnet jetzt nur sorgsam ausgewählten Fragestellern zu erläutern? Das verstärkt doch nur den Eindruck, dass er der Pressefreiheit - ohne Ansehen von Person und Medium - keinen hohen Stellenwert einräumt." (Bettina Gaus, TAZ)

Den fraglichen Teufel charakterisierte z.B. @csommer auf Twitter so:

"Der Herr Wulff lebt in einer längst vergangenen Medienwelt… denn die heutige besteht nicht nur aus ZDF + ARD. Das ist schon 30 Jahre her".

Dass Christian Wulff also seinen Anruf beim Bild-Zeitungs-Chefredakteur Kai Diekmann bzw. bei  dessen Mailbox inzwischen für einen schweren Fehler hält, erfährt man zum Beispiel auf jeder der ersten drei Seiten der Süddeutschen erneut (und ist dann Heribert Prantl auf der Meinungsseite 4 dankbar, dass er diesen Satz nicht mehr wiederholt).

Dass gestern in ARD und ZDF (Video) denkbare Nachfragen wie die, ob denn der Präsident seinen "Bruch" mit der Springer-Presse nun wenigstens vollzogen hat und ob für seine nach eigenen Angaben bereits vollzogene Entschuldigung Diekmann wirklich der richtige Ansprechpartner war (oder ob nicht die Bürgerinnen und Bürger eine Entschuldigung für Wulffs Sonderbeziehung zu Springer verdient hätten) von Bettina Schausten (ZDF) und Ulrich Deppendorf (ARD) nicht gestellt wurden, steht einstweilen nirgends. Versteht sich auch. Die Bild-Zeitung selbst war schon gestern (in Gestalt Nikolaus Blomes im Deutschlandfunk, vgl. DPA) und ist auch heute (in derjenigen Ulrich Beckers per Kommentar) nicht zufrieden. Allerdings handelt es sich jeweils bloß um Stellvertreter statt um Diekmann selbst. Das macht Wulff vielleicht Hoffnung.

Zurück in die SZ: Auf der Medienseite 19 enthüllt Hans Leyendecker in einem allgemeinen Text über Wulffs Medienpolitik (die er als niedersächsischer Ministerpräsident trieb) die ersten drei Sätze von Wulffs Anruf auf Diekmanns Mailbox im Zusammenhang:

"'Guten Abend, Herr Diekmann. Ich rufe aus Kuwait an. Bin gerade auf dem Weg zum Emir."

Das ist vermutlich neu, lediglich den Satz mit "Emir" hatte sueddeutsche.de gestern bereits in einem Interview mit dem Literatur- und Witzeexperten Hellmuth Karasek enthüllt.

Erheblich interessanter, was nicht auf der gedruckten SZ-Medienseite steht, sondern bei sueddeutsche.de im Digitalblog: Wie die von wem auch immer bestimmte "Zugriff"- und "Sperrfristen"-Strategie für die 20 Interview-Minuten (siehe auch tagesspiegel.de) von Anfang an nicht aufging:

"Die Debatte um die Sperrfrist für das Gespräch ist bizarr: Kurz nach 17 Uhr wurde das Gespräch aufgezeichnet, um 18 Uhr konnten es dann Journalisten sehen. Bereits zu diesem Zeitpunkt twitterte unter anderem die Nachrichtenagentur dpa die wichtigsten Aussagen. Die ARD wollte erste Auszüge (!) um 18:25 Uhr veröffentlichen, das ZDF kurz darauf. Wer die kompletten 21 Minuten sehen möchte, muss sich eigentlich bis 20:15 Uhr gedulden. Wie sinnlos solche Sperrfristen sind, zeigte sich allerdings schon um 18:45 Uhr: Da hatte Markus Beckedahl bereits eine Audio-Version des Interview in seiner Komplettfassung auf sein Blog Netzpolitik.org hochgeladen...",

schreibt Johannes Kuhn nicht nur, sondern versah den Text auch mit passenden externen Links. Bliebe hinzuzufügen, dass kurz nach 19.00 Uhr außer der zentralen Interview-Info ("Der Anruf bei dem Chefredakteur von BILD war ein schwerer Fehler, der mir leid tut") auch bild.de das Ganze auf Video anbot (siehe Screenshot oben). Und so subversiv und toll für die künftige Wahrnehmung des Netzes in den Strategien von Politikberatern Markus Beckedahls Coup auch sein mag - wer sich gestern am Vorabend das Wulff-Interview bei netzpolitik.org anhörte, war wirklich selber Schuld.

Nun noch im Schnelldurchlauf durch mediale Aspekte in der Wulffartikelflut:

"Ehrlichkeit, darum geht es Christian Wulff in dieser Affäre. Also gut, sind wir ehrlich: Christian Wulff ist ein mittelmäßiger Politiker, der ein paar ziemlich mittelmäßige Probleme hat, die zum Teil auf mittelmäßigem Niveau breitgetreten werden und die er nun auf ziemlich mittelmäßige Art im Fernsehen aus der Welt zu räumen versucht",

kommentiert Roland Nelles bei SPON, das die Sache an sich konzise "Kredit- und Medienaffäre" nennt. Allerdings auch aufschlussreich: Derselbe SPON-Artikel bietet den Service, die Anfrage der Bild-Zeitung an Wulff aus dem Dezember "im Wortlaut" zu dokumentieren. Das heißt, SPON hat die gestern von bild.de "dokumentierten" Fragen ("Noch mal in eigener Sache") per copy & paste in die eigene Optik und auf eigene Server hinüberdokumentiert, so wie es sueddeutsche.de, immerhin in leicht bearbeiteter Form, auch tat und zum derzeit üblichen Onlinejournalismus gehört.

Wenn wir beim Dokumentieren sind: bild.de wiederum dokumentierte "das Schreiben der TV-Chefs" der Privatsender, die gestern auch gerne  Wulff mit befragt hätten.

[listbox:title=Artikel des Tages[Sperrfristen-Strategie zum Wulff-Interview (SZ-Digitalblog)##Informationskaskaden drumherum (FAZ)]]

Immerhin können sich Peter Limbourg, Peter Kloeppel und die empörten Kollegen der sogenannten privaten Nachrichtensender N 24 und N-TV freuen, nicht beim "Waterloo" dabei gewesen zu sein, dass die FAZ-Redakteure Michael Hanfeld und Stephan Löwenstein dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk nun bescheinigen. Mit seiner fundierten Kenntnis spielt Hanfeld die bei anderen Gelegenheiten so gern verfassungsgemäß postulierte Staatsferne gegen die "bei einer Gelegenheit wie dieser auf Millimetermaß" geschrumpfte Nähe zu einem wichtigen Staatsorgan aus. Auch die "Informationskaskade über die Art und Weise der Informationsgebung", die sich im Lauf des gestrigen Tages entwickelte, ist perfekt beschrieben.

Was am Ende wohl den eingangs behaupteten "Waterloo"-Charakter besonders ausmacht, sind Widersprüche zwischen Wulffs TV-Aussagen und Zeitläuften des Telekommunikationsverkehrs zwischen der Springer-Presse und dem Präsidenten ("Um es ganz genau zu machen: Am Sonntag, 11. Dezember 2011, ging die Email mit den Fragen der 'Bild'-Redaktion an Wulffs Sprecher Olaf Glaeseker raus. ... .... Und erst danach, es war Montag, 12. Dezember, 18.19 Uhr, sprach Wulff auf Diekmanns Mailbox. Allein schon durch diese zeitliche Abfolge wird die Einlassung des Bundespräsidenten, er habe die Berichterstattung nicht verhindern wollen, einigermaßen erschüttert"), die vermutlich Honoratioren des Springer-Verlags an solche der FAZ durchgesteckt hatten.

Das wäre dann doch wieder so eine Pest-/ Cholera-Frage.


Altpapierkorb

+++ Herkömmlicher Fernsehtipp: Bruno Ganz als "Schweizer Bundespräsident Kater", morgen um 20.15 Uhr auf Arte im Spielfilm "Der große Kater"! "Leider bleiben neben der metaphernüberladenen Bildsprache die Charaktere oft flach", kritisiert Anna Klöpper in der TAZ. Aber dass in der sogenannten Wirklichkeit die Charaktere von Bundespräsidenten und ihrer Entourage keineswegs immer durch besonderen Tiefgang faszinieren müssen, das weiß das Publikum ja inzwischen. +++

+++ "Das Internet hat weniger bewirkt, als man denkt", steht über dem großen FAZ-Interview mit Aktham Suliman, dem Deutschland-Korrespondenten von Al Dschasira. Der sagt u.a.: "Facebook und andere neue soziale Medien wie Youtube oder Twitter tragen dazu bei, Dinge zu verbreiten, Kommunikation herzustellen. Aber ob sie Revolution oder Aufstände überhaupt erst möglich machen, daran zweifle ich sehr stark. Die Französische Revolution hatte kein Facebook, die Oktoberrevolution hatte kein Al Dschazira...." +++

+++ Zwischen den gegen die "Tagesschau"-App klagenden Verlagen, Springer, FAZ & Co, und der ARD bahnt sich ein "Agreement of Understanding" an, fasst der Tsp. einen längeren Artikel der DJV-Mitgliederzeitschrift journalist zusammen. +++ "Überraschung" (Tsp.): Nicht etwa der Bayerische Rundfunk, nein, der kleine, viel nördlichere Rundfunk Berlin-Brandenburg führt die Feder bei den erschöpfenden Biathlon-Berichten der ARD. +++

+++ Mehr Wulff-Stuff: "Wulff hat sich den falschen - oder aus seiner Sicht womöglich gerade den richtigen - Zeitpunkt ausgesucht, denn bei ARD und ZDF sind derzeit leider alle Talker gleichzeitig in der Winterpause" (dwdl.de: "Wo ist die Talkschwemme, wenn man sie mal braucht?"). +++ "'ARD und ZDF haben ihr Programm geändert', begrüßt Deppendorf die verdutzten Zuschauer, die mit Veronica Ferres beziehungsweise Jörg Pilawa gerechnet hatten (klingt nach Klischee-Witz, ist aber die echte Programmplanung von gestern)" ( aus der BLZ-Fernsehkritik von Sarah Mühlberger zur Sondersendung). +++ "'Ich will den Wortlaut haben', sagte [Hans-Christian] Ströbele am Donnerstag im Deutschlandfunk. Wenn die 'Bild'-Zeitung jetzt veröffentlichen würde, was Wulff gesagt hat, 'da mögen die einen oder anderen Bemerkungen sein, die mit dem, was er so im Fernsehen gesagt hat, überhaupt nicht zu vereinbaren sind'" (aus einer Agenturenzusammenfassung ebd.). Wird Diekmann Ströbele den Wunsch erfüllen? +++

+++ Nachruf auf Ronald Searle, den "Großmeister der Karikaturisten und Weltkriegsveteran" von Dominic Johnson in der TAZ. +++

+++ Am Freitag vor dem Kölner Landgericht geht es um Günter Wallraffs Erlebnisse in einer für Lidl aktiven Großbäckerei anno 2008. "Nach dem Prozess werde ich wieder abtauchen, ich bin nämlich schon in einer neuen Rolle unterwegs", vertraute Wallraff Hans Hoff an, der für die Süddeutsche berichtet. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.