Entscheidung des Herzens

Entscheidung des Herzens

Der größte Produzent von Schmonzetten, aber auch Schwedenkrimis tritt ab: Erste Lebenswerk-Würdigungen für den deutschen Darryl F. Zanuck, Degeto-Tycoon Hans-Wolfgang Jurgan.

Das kann ihm keiner nehmen: derzeit bereits 51 Producer-Credits, teils als line, teils als executive producer in der International Movie Database, zu denen in den nächsten Jahren noch so einige dazukommen dürften. (Und beachten Sie die Vielzahl schwedischer Krimis darunter; streng genommen müsste man 21 weitere Wallanderverfilmungs-Credits zu den 51 hinzuzählen...). Sowie immerhin 19 "Co-Produzent, Redaktion"- Nennungen beim auf deutsche Kinofilme spezialisierten filmportal.de.

Der "Süßstoff-Fabrikant mit dem Vollbart", "der Zuckerbäcker des öffentlich-rechtlichen Films", wie ihn die Süddeutsche heute apostrophiert, der "TV-Pate", um den sich früher, "wenn er auf einem Branchentreff erschien, ... meist ein Schwarm eifriger TV-Macher" bildete, der aber "schon auf der letzten Gala des Deutschen Fernsehpreises ... auf einmal mutterseelenallein" herumstand, wie das Kulturressort von Spiegel Online investigierte, der Mann also, der den deutschen Film der Gegenwart mindestens so geprägt hat wie Darryl F. Zanuck zu seiner Zeit den amerikanischen, der Degeto-Chef Hans-Wolfgang Jurgan wurde gestern von seinem Posten abberufen. "Gefeuert" (dwdl.de).

"Als sich die ARD-Intendanten am vergangenen Sonntagabend in Bremen trafen", taten sie das nicht etwa, um zwecks Konkurrenzanalyse gemeinsam den Sonntagsfilm im ZDF anzuschauen, der Jurgans Erfolgs-Handschrift in ungefähr ebenso erschütterndem Ausmaß duplizierte, sondern wegen des "Falls Degeto", berichtet Claudia Tieschky in der Süddeutschen (S. 15) am ausführlichsten. Jurgan sei "persönlich vor die Gesellschafter" der zu dem Zeitpunkt noch von ihm geleiteten Deutschen Gesellschaft für Ton und Film, also die Intendanten, getreten. Aber das habe ihm nicht mehr geholfen.

Was ihm vor allem vorgeworfen wird: jene "gravierenden organisatorischen Mängel", die die Bild-Zeitung (die schon wieder keine Kampagne gegen die ARD starten zu wollen scheint) in ihrer kurzen Meldung nennt und die sueddeutsche.de gestern nachmittag aus dem aktuellen Anlass noch einmal zusammenfasste. Vor allem ging es darum, dass die Degeto ihre sowieso schon unglaublich umfangreichen Produktionsplanungen auch noch vorauseilend, bis 2014, übererfüllt hat und die ARD daher "ihrer an sich schwerreichen Film GmbH 23 Millionen Euro vorfinanzieren" musste.

Es gibt aber noch mehr Vorwürfe, und die fasst Michael Hanfeld in der FAZ zusammen. "Es wird geprüft, ob und wie Jurgan nicht nur seines Postens enthoben, sondern entlassen werden kann. Deshalb bleiben die Wirtschaftsprüfer am Drücker, der Bericht, den sie jetzt den ARD-Intendanten vorgelegt haben, ist nur eine Zwischenetappe."

Welche Wirtschaftsprüfer? Die ARD hat den externen Sachverstand der KPMG eingekauft, zumal solcher im Degetoumfeld, jenseits dessen des Volkswirtes Jurgan (vgl. deutscherfernsehpreis.de) natürlich, bislang eher fehlte. Immerhin, "es wird darüber nachgedacht", der nach seiner Suspendierung im Moment einzigen Degeto-Geschäftsführerin Bettina Reitz "einen kaufmännischen Leiter an die Seite zu geben, also jemanden, der für eine Kostenkontrolle steht, wie es sie bei der Degeto bislang erstaunlicherweise nicht gab" (FAZ). Wobei sueddeutsche.de zu entnehmen ist, dass ARD-Programmdirektor Volker Herres den Titel eines "nebenamtlichen Degeto-Geschäftsführers" bekleidet; aber der hat ja sowieso viel um die Ohren.

Hanfeld interessiert sich in seinem ARD-Artikel dann für die selbstverständlich bereits tobenden Machtkämpfe innerhalb der ARD um die Nachfolge auf dem einflussreichen Posten (da ja, wie regelmäßige Altpapier-Leser wissen, vgl. Süddeutsche neulich, Reitz schon wieder auf dem Absprung zu einem anderen Posten ist - dem der Fernsehdirektorin des Bayerischen Rundfunks). Eine Nachfolgekandidatin könnte Verena Kulenkampff sein.

Welchen Posten bekleidet sie im Moment? Den der Fernsehdirektorin beim Westdeutschen Rundfunk. Ob jetzt Fernsehdirektorin oder Degetochefin der einflussreichere Posten ist, scheint also eine jener Fragen zu sein, deren Antwort vor allem im Auge des Betrachters schlummert. Wer jedoch verfolgt hat, wie Kulenkampff die Niveaus der von ihr betreuten Dritten Programme (vor dem des WDR dasjenige des NDR) herabnivelliert hat, kann sie für eine würdige Jurgan-Nachfolgerin halten.

Welche Vorwürfe Jurgan noch gemacht werden, derentwegen er möglicherweise entlassen werden könnte? Nun, "der Kaufmann, der unbeirrbar die heilen Lebenswelten in von ihm finanzierten Filmen betonte, jettete gerne an die Sets in aller Welt - warum eigentlich, fragte sich mancher Intendant schon vor Jahre", so die Süddeutsche.

Und "es ging auch um die Frage, ob einige Firmen", also Filmproduktionsunternehmen, deren Vertreter zumindest bis zur vorletzten Fernsehpreisgala immer Schwärme um Jurgan bildeten, "signifikant öfter beauftragt worden sind als andere. In der Branche heißt es, das könne unter anderem für die Berliner Ziegler Film gelten, die praktisch alle Freitagsfilme mit Christine Neubauer ('Die Landärztin') produziert", fügt wuv.de hinzu.

Wer sich um die Aufklärung solcher Fragen nun bemüht (neben den externen Wirtschaftsprüfern, deren GEZ-Gebührenzahler-finanzierte Honorare sicher auch demnächst veröffentlicht werden)? Die diesbezügliche ARD-Intendanten-Taskforce unter Leitung des HR-Intendanten Helmut Reitze und die beim Treffen in Bremen neu gekürte ARD-"Filmintendantin" und damit Degetoaufsichtsratschefin Dagmar Reim (die ersteren inoffiziellen Titel vom vormaligen MDR-Intendanten Udo Reiter übernimmt).

[listbox:title=Artikel des Tages[FAZ über Jurgans Aus##sueddeutsche.de darüber##Huber übers gelangweilte Land##Jakobs' Medienjournalismus-Ruckrede auf Video]]

Bleiben vorerst zwei Fragen: Muss die Taskforce sich auch ansehen, was die Degeto verursacht hat? Also z.B., um jetzt nur die Ziegler-Produktionen 2011 zu nennen: "Bella und der Feigenbaum", "Harry nervt", "Kennen Sie Ihren Liebhaber?", auch, gewiss: "Der Mann mit dem Fagott", "Mein verrücktes Jahr in Bangkok", "Nur mit Euch" sowie natürlich "Die Landärztin 9 - Entscheidung des Herzens", oder wäre das zu brutalstmöglich?

Und zweitens natürlich die Frage nach dem Schaden. "Ein Schaden ist der ARD nicht entstanden" (sueddeutsche.de), sie muss halt über die nächsten Jahre wegsenden, was Jurgan in den letzten Jahren beauftragt hatte und sich kaum von dem unterscheiden wird, was sie sonst weggesendet hat.

Und der Schaden für den Fernsehfilm als Kunstform, die er vielleicht einmal war, bevor die ARD-Degeto und die von ihr beeinflussten ähnlich wirkungsmächtigen ZDF-Redaktionen ihren Einfluss geltend machten - der ist einerseits vielleicht unbezahlbar im Kreditkartenwerbungssinne, andererseits (für alle, die nicht ihr Geld mit der Herstellung von Fernsehfilmen verdienen) so gleichgültig wie die Kunstform Fernsehfilm an sich längst ist.


Altpapierkorb

+++ "Ein bestimmtes Fernsehen funktioniert nur in einem bestimmten Umfeld. Deutschland ist ein gelangweiltes Land. Mit Mühe wird so ein Tag rumgebracht, bis abends das Fernsehen zum Unterhaltungs-Halali ruft. ... . Wohlig kuschelt sich das Publikum in die Kissen und ergötzt sich am vorführten Panoptikum. Das neue Deutschland in seiner übergroßen Mehrheit ist nicht Ost oder West, nicht links oder rechts, nicht Nazi oder Antifa, es ist überversorgt und unterunterhalten": diese aufrüttelnde Suada, in die spürbar viel bitterer Überdruss eines Medienredakteurs, der halt immerzu Fernsehbesprechungen auf seine Medienseite setzen muss, damit die Leser lesen und die User klicken, hat nichts mit Degeto-Content zu tun, sondern mit dem "scripted reality"-Content des Privatfernsehens. Verfasst hat sie Joachim Huber im Tagesspiegel. +++ Am interessantesten an der Tsp.-Meldung zu Jurgan ist der erste Kommentar untendrunter. +++

+++ Zu all den deutsch-griechischen Problemen, die es derzeit womöglich (je nach den Medien, die man verfolgt) gibt, gesellt sich auch jetzt auch noch eines der Medienfreiheit. "Wie auch immer der Fall ausgeht, lässt er jetzt schon Fragen zu über das Verständnis von Pressefreiheit, mit dem das griechische Gericht an diese Klage herangeht", schreibt die Süddeutsche zum griechischen Stinkefinger-Focus-Titel-Prozess. +++

+++ Doch nicht gleichgültig, der deutschen Fernsehfilm? Gleich zwei Stück bespricht die FAZ ausführlich in der Mitte ihrer Medienseite: "Transit" im Bayerischen Dritten "ist ein Truckerfilm, der Zweifel daran lässt, ob der Mensch selbst fährt oder gefahren wird", lobt Jan Wiele. Und Hauptdarsteller Clemens Schick "macht diesen Film zu einem Ereignis". +++ Darüber lobt Heike Hupertz ähnlich gestimmt den 20.15 Uhr-ARD-Film: "Nacht ohne Morgen" "ist ein sehr trauriger Film nicht ohne Hoffnung und ein Paradestück über Melancholie". +++ Götz George und Barbara Sukowa "retten den handlungsarmen Plot durch ihr präzises Spiel" überschreibt die TAZ recht abschreckend ihre eigentlich doch ganz positive Kritik. +++ Und die Berliner Zeitungen loben natürlich ebenfalls. +++ "Vor lauter Degeto-Schmarrn sehen das Erste und die Dritten ihre Perlen nicht!" ruft Rainer Tittelbach auf seiner Startseite aus (als Bildunterschrift zur Wiederholung von "Mitte 30")... +++

++++ Journalistik: "Seitens der Macher heißt es: 'Erstklassiger Journalismus, innovatives Design, moderne Webtechnologie sowie eine Vielzahl an hochwertigen Bewegtbildinhalten sind die wichtigsten Erfolgsfaktoren', heißt es seitens der Macher". Heißt es hieß es zunächst in der bild.de-Meldung über den Preis als "beste Website des Jahres", den dieselbe Webseite von kress.de zuerkannt bekam. +++ "Stichflammen-Journalismus"? "Es sind die Extremwerte und die Schlüsselereignisse der Ausgrenzung und Verfolgung, die interessieren", und der Alltag interessiert nicht. Frisches Bernhard-Pörksen-Interview bei meedia.de, über die Berichterstattung um die Mordserie der Neonazis. +++ "Wer Fox News schaut, verblödet", also "weiß weniger, als jemand, der gar keine Nachrichten sieht". Das sei wissenschaftlich belegt, meldet die Süddeutsche. +++

+++ Digitalia: Die FAZ beglossiert eine Erweiterung des Google Chrome-Browsers namens "Jailbreak the Patriarchy", die "fortan auf allen englischsprachigen Seiten, die mit Google Chrome betrachtet werden, die Geschlechter vertauscht". +++ Die BLZ stellt den "echten Twitter-Star" @katjaberlin vor. +++ Und der mutmaßliche Börsengang von Facebook wird kommentiert: "Im Grunde sind sie es", die noch nicht ganz eine Milliarde Nutzer, "die jetzt zu Geld gemacht werden" (TAZ). "Gut so: Facebook wird den Regeln unterworfen, die für alle Global Player gelten" (Tsp.). Und Hans-Jürgen Jakobs kommentiert auf der SZ-Meinungsseite "die Groteske um Facebook": "Das Unternehmen ... soll angeblich 100 Milliarden Dollar wert sein. Das ist eine Summe aus Fantasialand, die den Jahresumsatz um das 25-Fache übersteigt." +++

+++ Die medienjournalistische Ruckrede desselben Hans-Jürgen Jakobs bei der Otto-Brenner-Stiftungs-Tagung, um die es hier im Altpapier vor einer Woche ging, hat bisher noch keine ungeheuer breiten Wellen geschlagen. Aber hier ist sie jetzt anguck- (und -hör-)bar. +++

+++ Klaus-Peter Klingelschmitt ist im Alter von 59 Jahren gestorben. "Er hatte die taz in der Hand." (TAZ). +++

+++ Ralf Mielke, Medienredakteur der Berliner Zeitung, ist indes in Chennai, dem früheren Madras, und bloggt sozusagen von dort, um den Internetauftritt seines Blattes aufzupeppen. +++

+++ "Das name dropping ist nichts als ein Zeitvertreib von Medienjournalisten", glossiert Michael Hanfeld in der FAZ gelangweilt neue Nichtmeldungen über die Thomas-Gottschalk-Nachfolgefrage. Schon wirft die TAZ-Kriegsreporterin einen neuen, noch unverbrannnten Kandidaten in den Ring: die "Spaßkanone des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung", Claudius Seidl. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.