Mineralwassertrinkende Tagsüberdenker

Mineralwassertrinkende Tagsüberdenker

Neue Magazine nicht bloß für rotweintrinkende Feierabenddenker, strahlendes Lächeln, anregende Frisuren und frohe Chefredakteure: beinahe ein Wohlfühl-Altpapier heute.

In den großen Ressorts werden weiterhin die Morde der Zwickauer Neonazis behandelt. U.v.a. hat Hans Leyendecker für die Süddeutsche ein FAQ zum Thema verfasst, das zumindest einiges über Hans Leyendecker aussagt ("Warum verfassten die Killer keine Bekennerschreiben?" "... vielleicht waren sie schreibfaul; vermutlich war das Substantiv 'Reflexion', das in Traktaten von Terroristen aller Länder häufig auftaucht, für sie ein Fremdwort. Vermutlich hätten sie das Wort auch so geschrieben: 'Reflektion'.").

Die TAZ hat auf ihrer Titelseite im weiteren Sinne einen recht hintersinnigen Bilderwitz zum Thema und einen reflektierten Kommentar von Christian Rath ("Wer aber keinen totalen Präventivstaat haben will, sollte sich mit empörten Fragen und Forderungen an die Sicherheitsbehörden etwas zurückhalten").

In der Mediennische im engeren Sinne aber ist an diesem Mittwoch alles bestens. Strahlendes Lächeln, frohe Chefredakteure, fantastische Herausforderungen und anregende Frisuren bestimmen das Bild. Allenfalls Verschnupfung unter Philosophie-Publizisten wäre zu beklagen. Werbekunden, die auf hochwertige Zielgruppen gehen, würden sich im heutigen Altpapier rundum wohlfühlen.

Zum Beispiel sind schöne Zeitschriften neu am Start in den übervollen Regalen, die die fleißigen Grossisten befüllen. Gleich zwei neue Magazine kreisen ums Themenfeld der Philosophie und sind nicht bloß für "rotweinschlürfende Feierabenddenker" gemacht, wie Dirk Pilz (Berliner Zeitung) zumindest dem Philosophie Magazin bescheinigt. Das macht beim Online-Anblättern, wenn man über den etwas tumben Bilderwitz über dem Editorial absieht, einen guten Eindruck. "Der Coup des Heftes: ein Interview des Wikileaks-Gründers Julian Assange mit dem Moralphilosophen Peter Singer. Allein deshalb sollte man das Heft haben", so Pilz.

Was den französischen Verleger Fabrice Gerschel, der mit der Idee auf seinem Heimatmarkt erfolgreich ist, allerdings "arg verschnupft" (BLZ) bzw. sich "ein wenig hintergangen" fühlen lässt (meedia.de): dass sein Heft gar nicht das einzige neue Philosophiemagazin ist, obwohl doch eines wirklich erst mal gereicht hätte. Vielmehr erscheint auch noch Hohe Luft, mit dessen Herausgeberin Katarzyna Mol er einmal über eine Kooperation geredet hatte, aber ohne zu Ergebnissen zu gelangen.

Mol und ihren Chefredakteur Thomas Vašek hat meedia.de interviewt. Die beiden legen eher die sportive Konkurrenz-belebt-das-Geschäft-Haltung des deutschen Mittelstandes an den Tag ("Es hilft, dass es gleich zwei Magazine mit verschiedenen Heftkonzepten gibt, die das neue Segment am Kiosk gemeinsam erschließen..."). Außerdem erklären sie Nicht-Hamburgern den schönen Namen ihres Heftes (wobei man hinzufügen könnte, dass die Hoheluftchaussee trotz ihres Namens eine ziemliche höllische Ausfallstraße ist) und packen die Gelegenheit beim Schopf, zu erläutern, dass Mediaagenturen "für Marken, die auf hochwertige Zielgruppen gehen", ihr Heft bereits "sehr gut angenommen" hätten.

Ebenfalls gerade erschienen, ebenfalls hochwertig (-preisig freilich auch): das neue 032c-Heft. Da handelt es sich bereits um die 22. Ausgabe. Dennoch erwähnenswert ist es, weil nun also Jörg Koch, seines Zeichens "Blattmacher und Creative Director" von 032c, überdies Chefredakteur einer der nächsten gespannt erwarteten Brandneu-Erscheinungen wird: der hiesigen Interview-Ausgabe. Wiederum gegenüber meedia.de ließ Koch dazu, punktuell scharf, verlauten:

"Andy Warhol's Interview war die absolute Zeitgenossenschaft. Der Anspruch, Glamour nah zu beschreiben - punktuell scharf - hatte immer großen Einfluss auf mich: Jetzt dabei zu sein ist eine fantastische Herausforderung."

Deutsche Normalverbraucher assoziieren bei den Schlagwörtern Glamour und Zeitschrift vielleicht eher Hubert Burdas Bunte. Und auch die hat schon wieder einen Coup, nämlich die offizielle Absage der Thomas-Gottschalk-Nachfolgekandidatin Barbara Schöneberger und des zumindest theoretischen Kandidaten Johannes B. Kerner, was heute u.a. die FAZ aufgreift (S. 33: "Die Liste der Kandidaten, die Thomas Gottschalk ... beerben könnten, wird immer kürzer. Jörg Pilawa hat mehrfach darauf hingewiesen, dass er weder gefragt wurde noch eine Option hatte oder sie haben wollte...") und auch dazu führt, dass immer mehr Persönlichkeiten der Branche sich proaktiv verweigern.

Umso besser kann man sich vorstellen, wie froh ZDF-Chefredakteur Peter Frey war, bei einem offiziellen Pressetermin einmal nicht oder "nicht sofort" aufs Thema "Wetten, dass...?" angesprochen zu werden. Der Termin, bei dem das geschah, fand bereits letzte Woche statt und findet seinen Niederschlag heute im Tagesspiegel, weil es um die morgen zur Ausstrahlung anstehende Jubiläum von Maybrit Illner ging. 500 Talkshow wird sie alt, und das Blatt geizt nicht mit Lob:

"Strahlendes Lächeln, blaue Jeans, blaues Hemd, zwei Knöpfe offen, noch ein bisschen attraktiver, als sie über dem Bildschirm kommt – so empfing die Moderatorin in der vergangenen Woche Journalisten in Berlin-Mitte."

Illners Sendung selbst scheint Markus Ehrenberg aber auch zu gefallen. Ferner erwähnenswert: Illner könnte gerne einmal mit ihrem Ehemann René Obermann (Deutsche Telekom) in einer Show des eben schon erwähnten Jörg Pilawa auftreten wollen. Außerdem hat der Tsp. einen Insidertipp für harte Fans: morgen am späteren Abend einfach mal in die Bar Tausend am Schiffbauerdamm schauen. Dort wird das Jubiläum begossen.

[listbox:title=Artikel des Tages[Im neuen Philosophie Magazin blättern##Was die BLZ darüber schreibt##TAZ über Spannung im britischen Medienrecht##...über Arte##Computer als Privatsphäre (G. Baum/ FAZ)]]

Ein "Pulloverkleid mit Gürtel" sowie einen "eigentlich strengen, aber von Locken aufgeheiterten Haarschnitt" trug am Montag in Hamburg Véronique Cayla - eine hochrangige Persönlichkeit, nämlich die amtierende Arte-Präsidentin (vgl. unser Foto). Claudia Tieschky widmet ihr heute in der Süddeutschen ein großes Porträt (S. 17). Darin geht es auch noch einmal um die am Freitagnachmittag von Spiegel Online gebündelten und auf Artes offizieller Jahresprogrammpressekonferenz pflichtgemäß zurückgewiesenen Vorwürfe, der Kultursender wolle seinen Ansprüche absenken, um endlich auch in Deutschland mehr Quote zu machen. Und Cayla macht beim Zurückweisen Eindruck:

"... Und sie habe, fährt sie mit ihrer tiefen Stimme fort und kommt ziemlich in Fahrt, bei der Filmförderung sogar einen Förderfonds gegründet, der Fernseh-Dokumentarfilme ermögliche ohne konkretes Engagement von Sendern, und so sei nun zum Beispiel ein Film entstanden von Cannes-Preisträger Tony Gatlif über die politische Bewegung der Indignados in Madrid und Occupy in New York. Man hat ihr kürzlich gesagt, dass der Film wunderbar geworden sei und zwar so gut, dass er jetzt erst einmal im Kino gezeigt werde. Arte werde ihn dann eben später zeigen, und wenn schon, falls es Occupy bis dahin nicht mehr gebe, dann eben, na und, im historischen Programm."

Etwas weniger Eindruck machte die Präsentation der deutschen Verantwortungsträger, die u.a. für 2012 rund "80 Stunden dokumentarische Erstausstrahlungen mehr als 2011" ankündigten (vgl. den gestern in der SZ erschienenen, inzwischen frei online verfügbaren Bericht des Altpapier-Autors René Martens). Zumindest bleiben die Kritiker der Arte-Programmreform, allen voran die AG Dok der Dokumentarfilmer bei ihrer Kritik. "Mehr Quantität bedeute nicht mehr Qualität", so zitiert die TAZ deren Sprecher Thomas Frickel.


Altpapierkorb

+++ Heiße News direkt "aus Produktionskreisen" in die Bild-Zeitung: Til Schweiger soll neuer "Tatort"-Kommissar für Hamburg werden. Schon die verdächtige Wortgleichheit der Dementis ("Zu Bild sagte Til Schweiger gestern nur: 'Ich äußere mich nicht zu Spekulationen!' Und ARD-Koordinator Thomas Schreiber erklärt: 'An Spekulationen beteiligen wir uns nicht.'") könnte Kommissare auf diese Fährte führen. +++

+++ Großes Medienjournalismus-Kino auf taz.de: Steffen Grimberg berichtet aus dem Saal 73 des "Royal Courts of Justice" in London, der zwar "so gar nichts von Grandeur an sich" hat, aber gerade die Untersuchungskommission unter Lordrichter Brian Leveson (der "wie ein liebevoller Charakter aus der Knetgummifamilie von Wallace und Gromit aussieht" und "es faustdick hinter den Ohren" hat) beherbergt. Sehr spannendes Thema: rechtliche Konsequenzen aus dem News of the World-Abhörskandalen. Und bis zum "Verdacht aller Verdachte" am Ende schön spannend zu lesen. +++

+++ "Dass die interne Revision zwar in Berichten auf diese Missstände hinwies, daraus aber wohl kaum Konsequenzen gezogen wurden, liegt offenbar daran, dass die Hinweise der Revision nicht verwertet wurden": der Bericht der Süddeutschen zum Bericht der MDR-Untersuchungskommission über Berichte einer weiteren MDR-Abteilung... +++

+++ Von "häufigen Wutausbrüchen" der Chefredakteurin Tina Brown sowie drei prominenten Abgängen beim US-Magazin Newsweek berichtet ebenfalls die SZ. +++ In ihrer TAZ-Kolumne hält die Kriegsreporterin ihre Forderung nach "Wetten, dass...?"-Witz-Abstinenz ein. +++ In einer neuen Rubrik ebd. fragt David Denk, wie "es um die deutsche TV-Fiktion" steht, und zwar zunächst Karl-Otto Saur vom diesbezüglichen Baden-Badener Festival. +++

+++ RBB-Radiomoderator Ken Jebsen sendet wieder, die Kritik an ihm hat sich noch nicht erledigt. Interessanter als der Bericht des Tsp. sind die Kommentare unten drunter, die etwa um die Frage kreisen, wie denn nun Jebsens wirre E-Mail entstanden ist und verbreitet wurde (Kommentator maxvau um 17.44 Uhr am 15.11.). +++ Schließlich sind "Computer ...der Inbegriff der Privatsphäre", so die Kernthese des alten FDP-Recken Gerhart Baum heute im FAZ-Feuilleton. Online wie auch im Blatt ist sein Artikel illustriert mit einem Foto, das ihn am Laptop mit dem Internetauftritt der Piratenpartei auf dem Bildschirm zeigt. +++

+++ Womöglich auch ein Gegenteil der Privatsphäre: Facebook. Die Story, wie Salman Rushdie vom sog. sozialen Netzwerk vorübergehend in "Ahmed Rushdie" umbenannt wurde, weil er (nachdem seine Facebook-Seite ganz abgeschaltet worden war) "eine Kopie seines Ausweises" eingereicht hatte, "in dem er als 'Ahmed Salman Rushdie' geführt wird", erzählt die FAZ (S. 33: "Vor Facebook jedenfalls sind nicht nur die eigenen Daten, sondern ist auch der eigene Name nicht sicher") farbiger. +++ Was die TAZ dazu schreibt, hat einen anderen Tenor ("Es ist einzig Rushdies Prominenz, die es ihm jetzt erlaubt, seinen Account unter dem Vornamen Salman weiter zu betreiben. Fair ist das nicht") und steht frei online. +++ Dass sich ein Zwickauer NDP-Mann kürzlich, als noch niemand etwas damit anzufangen wusste, auf Facebook in "Paul Panther" umbenannt hatte, wie heute in manchen Zeitungsartikeln erwähnt wird, hat publikative.org (das vormalige NPD-Blog) gesehen und dokumentiert. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.