Netzneutralität fürs Totholz

Netzneutralität fürs Totholz

Kann man sich vor dem gnadenlosen Gedächtnis des Internets schützen? Oder doch bloß seine Daten vor sich selbst verstecken? Frische Beurteilungen der weitreichenden Medienurteile, die es gerade hagelt.

Wichtige Entscheidungen in der Medienpolitik werden in Deutschland weniger von Medienpolitikern getroffen (die gibt es eigentlich kaum, sondern bloß aufstrebende Politiker, die auf dem Weg zu höheren Aufgaben in was-mit-Medien-Ressorts Station machen oder hängengeblieben sind). Sie werden von Gerichten gefällt. Und da hagelt es gerade höchstinstanzliche Urteile.

Erfochten wurden sie von einem Mann, der "in einem Mallorca-Blog ... mit voller Namensnennung beschuldigt worden" war, "er habe mit Firmenkreditkarte Rechnungen eines Sexclubs bezahlt" (FAZ, S.1), von einem Mann, "der 1990 gemeinsam mit seinem Bruder den Schauspieler Walter Sedlmayr umgebracht hatte" (SZ, S. 15) sowie vom Heinrich Bauer Verlag (üblicherweise vorgestellt mit seinen Produkten "Bravo, In Touch"; man könnte aber auch sagen: "Adel exklusiv, MEIN HUND & ich, Mehr Spass"). Doch solche (teils: allenfalls mutmaßlichen) Vorleben spielen in rechtsstaatlichen Systemen zum Glück keine Rolle. Die Genannten haben jeweils gewonnen.

In die Details: Unter der Übeschrift "Besserer Schutz vor Beleidigungen im Internet" feiert die FAZ gleich auf der Titelseite Entscheidungen sowohl des Bundesgerichtshofs wie des Europäischen Gerichtshofs. Um die BGH-Entscheidung in der Sache des Mallorca-Blog-Beleidigten geht es vor allem. Entschieden wurde, dass ein betroffener Beleidigter

"dem Provider - hier ging es um Google - darlegen muss, dass in einem seiner Blogs gegen Recht verstoßen wurde. Dieser Hinweis müsse 'so konkret gefasst' sein, dass er 'ohne eingehende rechtliche und tatsächliche Überprüfung bejaht werden kann'. Diese Beanstandung muss der Provider dann an den Blog-Verantwortlichen weiterleiten. Äußert sich dieser nicht, muss der Eintrag nach der Karlsruher Entscheidung gelöscht werden."

Zur journalistischen Beurteilung des Urteils verweist die FAZ auf ihren ebenfalls kurzen Kommentar unter der Überschrift "Störenfriede im Internet", der sichtlich von einem Vertreter der internetskeptischen Fraktion im Binnenpluralismus der FAZ verfasst wurde. Im Mittelteil scheint Jasper von Altenbockum das Urteil noch als salomonisch ("Der amerikanische Betreiber kann sich nicht hinter kalifornischem Recht verstecken, und die Blogger können nicht so tun, als gelte für sie nur die Meinungs- und Pressefreiheit, nicht aber der Schutz der Persönlichkeit") zu empfinden. Am Ende aber ruft er aber doch eher sphingisch aus: "Das wird das Unwesen des anonymen Anschwärzens nur unzureichend eindämmen".
Zum BGH-Urteil siehe auch heise.de, netzpolitik.org.

Das FAZ-Feuilleton, dessen vielfältige Sichtweisen aufs Netz anderen Agenden folgen, befasst sich mit einem anderen amerikanischen Betreiber, der mit europäischen Datenschutzideen noch ärger hadert. Es hat heute auf der Aufmacher-Position Max Schrems zu Gast, den Bild-Zeitungs-Titel-Schlagzeilen-bekannten Facebook-Kritiker aus Österreich und Sprecher von europe-v-facebook.org. "Auf Facebook kannst du nichts löschen" heißt sein Artikel (S. 33). Die zusammenfassende Unterüberschrift lautet: "Ich habe die Probe aufs Exempel gemacht und wollte wissen, was Mark Zuckerbergs Datenimperium über mich weiß. 1222 Seiten umfasst meine Akte. Alles, was gestrichen sein sollte, ist noch da". Der vielleicht prägnanteste Satz darin aber geht lakonisch:

"Wer auf Facebook etwas 'löscht', versteckt die Daten meist nur vor sich selbst."

Damit zurück zu den aktuellen Urteilen. Das von der FAZ nur erwähnte Euro-Urteil präzisiert Hans Leyendecker in der Süddeutschen und leitet sein Plädoyer mit dem klangvollen Satz ein:

"Das gnadenlose Gedächtnis des Internets ist manchmal die Schattenseite der totalen Kommunikation, die - oft im doppelten Wortsinn - keine Grenzen mehr kennt."

Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg hat in der Sache eines der beiden verurteilten, 2008 aus der Haft entlassenen Sedlmayr-Mörder (die freilich "bis heute ihre Unschuld" beteuern und gegen die Nennung ihrer Namen klagen) also entschieden:

"Opfer von Persönlichkeitsverletzungen im Internet können demnach gegen Veröffentlichungen nicht nur in dem Land klagen, wo die Betreiber von Websites ihren Sitz haben, sondern auch in ihrem eigenen Land."

Dieser Artikel, in dem Leyendecker scheinbar eine Mitte zwischen den konträren Positionen Sascha Lobos und Christian Schertz' sucht und dabei noch so manche Metapher aufgreift ("das Gedächtnis des Internets, das kein Alzheimer kennt und gegen das auch das Internetradiergummi nicht immer hilft..."), steht auf der Medienseite 15 und derzeit nicht frei online.

[listbox:title=Artikel des Tages[TAZ übers Grosso-Urteil##heise.de übers Blog/ Beleidigungen-Urteil##Europe vs. Facebook]]

Den netzpolitischen Begriff der Netzneutralität metaphorisch in das ureigene Gebiet der Holzpresse, nämlich in jene Kioskregale, in denen viele bunte Zeitschriften halb über-, halb nebeneinander drapiert ihren Wettbewerb untereinander ausfechten, überführt heute Altpapier-Autor René Martens. Der ist ein vehementer Verfechter des deutschen Pressegrosso-Systems, über dem wiederum eines BGH-Urteils (siehe Altpapier gestern) ein neues, womöglich mittelfristig tödliches "Damoklesschwert" (Frank Nolte, Vorsitzender des Bundesverbands Presse-Grosso) schwebt.

In Fortsetzung seines TAZ-Artikels von neulich (in dem er anschaulich erklärte, warum sich neue Zeitschriften wie Neon oder Brand eins nie hätten etablieren können, wenn etwa statt des deutschen das britische Vertriebsmodell gelten würde), beurteilt er heute das Urteil. Und auch wenn die letzte Schlacht noch nicht geschlagen bzw. "nach der Schlacht ...vor der Schlacht" sei und "frühestens Ende dieses Jahres" ein ebenfalls wichtiges Urteil des Kölner Landgerichts erwartet wird, ruft er doch, gemeinsam mit dem emeritierten Journalistik-Professor Michael Haller (von dem der eingängige Netzneutralitäts-Vergleich stammt) fast schon jenen "Notfall" aus, von dem Marc Jan Eumann, einer der raren Medienfachpolitiker hierzulande, bei den Münchner Medientagen zumindest theoretisch-rhetorisch sagte, "'notfalls' stehe der Gesetzgeber bereit, dieses 'System auch gesetzlich zu schützen'".

Marc Jan Eumann trägt im Moment den klangvollen Titel "Staatssekretär bei der Ministerin für Bundesangelegenheiten, Europa und Medien" (in Nordrhein-Westfalen).
 


Altpapierkorb

+++ Am Montag fragte man sich (hier im Altpapier) noch, was Stefan Niggemeier wohl über den aktuellen Spiegel geschrieben hätte, wenn er nicht für den Spiegel schriebe. Inzwischen hat Niggemeier mal wieder Neues in sein Blog geschrieben. Dort polemisiert er heftig gegen Michael Jürgs, der zwar auch ziemlich aktueller Spiegel-Autor ist, aber auch auch noch aktuellerer FAS-Autor bzw. eben ohnehin sehr sehr viel schreibt. Und "warum soll man einem Jürgs, wenn man ihm schon die sachlichen Fehler nicht rausredigiert, das Textrecycling nicht übel nimmt und die Angriffe auf die Fundamente unserer Demokratie durchgehen lässt, ausgerechnet den sprachlichen Unsinn aus seinen Texten streichen?" +++

+++ Zurück ins Presse-Grosso-Milieu: Für die Süddeutsche (S. 15) beleuchtet Jens Schneider das BGH-Urteil und hat vom Bauer-Verlags-Justiziar das vielsagende Originalzitat "Für uns ist die Kündigung eines Grossisten nur die ultima ratio. Wir werden das Mittel nur einsetzen, wenn ein Grossist auch nach vielen Gesprächen seine Arbeit nicht besser macht" bekommen. +++

+++ Die Motivation, die Zeitschrift namens Max zumindest einmal "wiederzubeleben", kennt die TAZ-Kriegsreporterin (die sich im Corporate Publishing-Milieu auskennt): "34 Seiten 'Der neue Beetle im großen Spezial'. Was sonst als Corporate Publishing Magazin mühsam seinen Vertriebsweg suchen müsste, hängt einfach dran, an Max. Und wird das Heft finanziert haben". +++

+++ Zurück zu Facebook: Am Montag wurde im "Unterausschuss Neue Medien" des Bundestages über soziale Netzwerke und das Datenschutzrecht diskutiert. Jan Wiele scheint in der FAZ (S. 37) "die Folgenlosigkeit der Debatte ausgemacht", aber immerhin lägen nun "die Konfliktfelder noch offener zutage". "Wie zu erwarten, kam dabei nichts Neues heraus. Dafür gibt es davon eine Videoaufzeichnung" (netzpolitik.org). +++ Außerdem stürzt sich ein neuer Player vom deutschen Institutionen-Himmel ins Getümmel des Internets: die Freiwillige Selbstkontrolle (Süddeutsche). +++

+++ Warum interessiert denn bloß das Mittelalter die Fernsehzuschauer von heute so? Das fragen die Medienseiten der Berliner Zeitungen Tagesspiegel (deren Ressortleiter sich das auch früher schon gern fragte) und Berliner Zeitung jeweils Experten, nämlich den Fernsehwissenschaftler Lothar Mikos (BLZ-Interview) bzw. Uwe Neumahr, Autor des Buchs "Cesare Borgia: Sohn des Papstes, Stratege der Macht, Fürst der Renaissance" und nun eines Tsp.-Gastbeitrags. Dass es sich bei dieser Renaissance eigentlich um das handelt, was nicht mehr Mittelalter ist, darauf weist tagesspiegel.de-Kommentator marel hin. +++ Aktuelle Analyse der nicht mehr gar so tollen Quoten in der Süddeutschen. +++

+++ "Am 1. November verlässt nicht nur Gründungsintendant Udo Reiter den MDR nach zwanzig Jahren, der Chefredakteur Wolfgang Kenntemich tut es ihm gleich. Dass er "über die Jahre (als Moderator und Kommentator) zu einem prägenden Kopf des Senders" wurde, und dass ihm Stefan Raue vom ZDF nachfolgt, das vermeldet in der FAZ Michael Hanfeld. +++

+++ Noch mehr Medienjustiz: Gerichtlich festgestellt sind nicht nur der Binnenpluralismus der FAZ, von dem oben schon (völlig freiwillig) die Rede war, sondern auch die Tatsache, dass neben Hugo Müller-Vogg (Ex-FAZ, jetzt mehr so Bild-Zeitung) noch auf beiden Seiten Platz ist (meedia.de). +++

+++ Zum im November anstehenden ZDF-Schwerpunkt "Burnout – Der erschöpfte Planet" sei es gekommen, weil zwei der führenden Cläuse des großen Senders (Kleber sowie "Frontal"-Chef Richter) eher aus Versehen große Reportagen zum selben Thema drehten, mutmaßt Joachim Huber im Tagesspiegel. Man darf sich aber schon drauf freuen, wenn Heino Ferch als Hauptdarsteller eines ebenfalls im Schwerpunkt inbegriffenen Fernsehfilms anschließend als Experte in der 500. Maybrit Illner-Talkshow  performen wird. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.