Die Irren vom Boulevard

Die Irren vom Boulevard

Ein neun Jahre alter britischer "Phone Hacking"-Skandal aus Rupert Murdochs Imperium zieht breite Kreise. Sogar die Springer-Presse empört sich.

Tolle Schlagzeile heute morgen, mitten auf bild.de, ganz oben, neben der "Suff-Puff-Affäre" und noch deutlich oberhalb der aktuellen Analyse "Rüsten die Saudis gegen den Irren von Teheran?" aus dem Politikressort: "Zeitungen werden wieder mehr gelesen!".

Wer sich weigert, diesen Link zu klicken, müsste ein schlechter Mensch sein. Wer ihn halt klickt, stößt auf die stolze 19 Online-Zeilen starke, erfreuliche und von einem entsprechend schönen Symbolfoto (bloß ein wenig leichter bekleidet hätten die hübschen Zeitungsleserinnen schon noch sein können) illustrierte Meldung des uns bisher nie aufgefallenen bild.de-Ressorts "Printmedien" zur aktuellen Allensbacher Markt- und Werbeträgeranalyse:

"Die Nutzung von Printmedien ist in den vergangenen zwölf Monaten erstmals seit 2006 wieder gestiegen. Das ergab eine Allensbach-Marktanalyse. Die Zahl der Gesamtleserschaft stieg demnach um 0,7 Prozent."

Infos wie die, dass die in Allensbach ermittelte Nutzung mit der verkauften Auflage wenig zu tun hat, im Grunde gegenläufig ist, verwirren die bild.de-Leser natürlich nicht. Wer partout mehr wissen möchte, kann auch zur bild.de-Quelle kress.de klicken. Jedenfalls: Vielleicht wird also doch noch alles gut! (Und auch in der gedruckten Zeitung erscheint der Artikel auf der Titelseite, zwar ganz unten, dafür unterhalb des Fotos von gleich drei unbekleideten potenziellen Zeitungleserinnen, die bloß im Pool gerade keine zur Hand haben).

Schlecht, sehr schlecht ist die Story aus der englischen Printlandschaft, die die deutsche inzwischen flächendeckend empört. Regelmäßigere Leser dieser Kolumne wissen, dass deutsche Medienmedien eigentlich allein die USA halbwegs regelmäßig auf dem Schirm haben, ins europäische Ausland aber nur zu schauen pflegen, wenn sonst gar nichts los ist und auch keine Degeto-Filme zu besprechen sind.

An diesem Donnerstag schauen aber alle Zeitungen auf die News of the World (Achtung, auch dies ein böser Link; immerhin sind die hier zu sehenden Frauen grundsätzlich leicht bekleidet) aus Rupert Murdochs Imperium. Pardon, doch nicht alle dort zu zu sehenden Frauen, vgl. Ex-Chefredakteurin und jetzige britische News International-Geschäftsführerin Rebekah Brooks. Sie, die vor ihrer Heirat Rebekah Wade hieß, schreibt, derzeit auf der Webseite prominent platziert, an "Dear All":

"I have to tell you that I am sickened that these events are alleged to have happened. "

Ähnlich äußern sich Murdoch himself und der amtierende Chefredakteur Colin Myler. Auf den nebenstehenden Fotos überbieten sie einander mit missgelaunten Gesichtsausdrücken.

Welchen Grund zur Zerknirschtheit die Verantwortlichen der "Gossenzeitung" haben, hat auf deutsch gestern bereits ausführlich die Süddeutsche beschrieben (und auf englisch der Guardian im Medien-Subressort "Phone Hacking" umfangreich zusammengefasst). Heute fasst u.a. Ralf Sotschek in der TAZ zusammen, was sich die NOTW anno 2002 leistete:

"Das britische Boulevardblatt hat mit Hilfe des Privatdetektivs Glenn Mulcaire im Jahr 2002 die Handy-Mailbox eines vermissten und später tot aufgefundenen Mädchens angezapft. Er löschte sogar Nachrichten, weil er Platz für neue schaffen wollte, um an weitere Informationen zu gelangen. Die Eltern von Milly Dowler glaubten, dass ihre Tochter noch am Leben sei und die Nachrichten selbst gelöscht habe. Die Polizei wurde dadurch ebenfalls in die Irre geführt."

Warum der Skandal bis in die Gegenwart und in die höchsten Ebenen der britischen Politik nachwirkt, weshalb es gestern in London eine Parlamentsdebatte dazu gab: Erstens, weil die britische Polizei davon schon lange gewusst zu haben scheint, dieser Aspekt des Skandals aber erst kürzlich, eben durch den Guardian, aufgedeckt wurde. Zweitens, weil der NOTW-Chefredakteur von 2003 bis 2007, Andy Coulson, anschließend zum Medienberater/ Kommunikationschef des 2010 zum Premierminister aufgestiegenen David Cameron aufgestieg (bis Anfang des Jahres, als er wegen ähnlicher, statt ermordeter Mädchen allerdings bloß lebende Prominente betreffender Enthüllungen zurücktreten musste; vgl. NZZ aus dem Januar).

Und drittens, weil der im März 2011 (vgl. z.B. Tsp.) gefasste, dabei äußerst umstrittene Beschluss, dass Murdoch (bzw. seine britische Dependance, die eben von Brooks geleitet wird) sämtliche Anteile am britischen Pay-TV BSkyB übernehmen darf, noch nicht umgesetzt wurde. Und eventuell revidiert werden könnte.

Welche "neuen Fragezeichen" der Skandal "hinter Murdochs Versuch, ...BSkyB voll zu übernehmen", setzt, beschreibt ebenfalls Matthias Thibaut heute im Tagesspiegel ("Was für ein Schmutz"). Der Frage, ob "Murdochs britische Statthalterin" Brooks gelogen haben könnte und zurücktreten müsste, geht Carsten Volkery bei SPON ("Murdochs Handy-Hacker schockieren die Briten") nach. Siehe auch sueddeutsche.de. Und auch Frankfurter RundschauBLZ ("'Ekelerregend und widerwärtig'") berichten.

Von einem "auf Twitter und Facebook inszenierten" "Volksaufstand" gegen News International gar berichtet Nina May, die UK-Medienbloggerin von meedia.de (deren Worte man vielleicht nicht unbedingt auf deutschsprachige Goldwaagen legen sollte). Jedenfalls weiß das in den Netzwerken aktive Volk, welche Sprache Murdoch am besten versteht, und wendet sich an bisherige NOTW-Anzeigenkunden:

"Ford, Renault, Virgin Holidays, Co-op, die Bank Halifax und das einflussreiche Online-Portal für Eltern Mumsnet haben ihre Werbebuchungen bis auf Weiteres storniert. T-Mobile, Orange, die Supermärkte Tesco und Asda sowie der Stromanbieter npower überprüfen ihre Werbestrategien. Laut Guardian hat npower in den 12 Monaten bis Ende Mai eine Million Pfund für Werbung in der News of the World gezahlt, Halifax 1.5 Millionen Pfund und Ford 600.000 Pfund."

[listbox:title=Artikel des Tages[TAZ über den NOTW-Skandal##Tsp. über den NOTW-Skandal##meedia.de-UK-Blog dazu##SZ gestern ausführlich dazu##Was macht das Leistungsschutzrecht?##Was die "netzpolit. Bewegung"?]]

Da der Medienwandel in England eher weiter fortgeschritten ist als hierzulande und englische Zeitungen eher schlechter verdienen als deutsche, könnte sich das als wirksame Methode erweisen.

Nur um zu verdeutlichen, für wie skandalös hiesige Blätter diese Story halten, noch zwei Zitate: "Ein Abgrund tut sich auf, der nicht nur das Ende der Sonderbeziehung zwischen Murdoch und der britischen Politik einläuten könnte, sondern vor allem einen tiefen Schatten wirft auf die Praktiken des britischen Boulevard und seine Enthüllungsgeschichten, die oft Futter sind für den weltweiten Nachrichten-Markt" (welt.de). "Abhör-Skandal erschüttert England/ Wurden Telefone der Hinterbliebenen angezapft?" (bild.de, über das Hacking von Opfern der Terror-Anschläge von 2005, während der Fall von 2002 dort bisher scheinbar nicht vorkommt).

Wenn sich sogar die Springer-Presse empören kann, muss also wirklich etwas dran sein.
 


Altpapierkorb

+++ Wo bleibt das Positive in den Qualitätszeitungen? Am Wilden Kaiser in Tirol! Jochen Hieber erfreut auf fünf ganzseitigen von sechs Spalten der FAZ-Medienseite den dortigen Tourismusverband und das ZDF mit einem über 13.500 Zeichen schweren Setbericht: "Gegenwärtig dreht das ZDF die fünfte Staffel der erfolgreichen Serie 'Der Bergdoktor'. Spannend ist, wie sich dabei Fiktion und Realität touristisch verbinden". Es finden sowohl Hansi Hinterseer als auch Rainer Maria Rilke Erwähnung. +++

+++ "Thomas Kausch setzt auf Fraternisierung und kultiviert dabei eine Haltung nah am Staubsaugervertreter", und "die Filmbeiträge der 15-minütigen Sendung ergänzen den Eindruck, dass hier dringend etwas verkauft werden muss": Da bespricht Altpapier-Autor René Martens in der Süddeutschen die seit kurzem werktäglich um 21.45 zu sehende NDR-Nachrichtensendung "NDR aktuell". "Derzeit wirkt sie noch wie eine verfilmte Zeitungsseite aus der Rubrik Vermischtes". Frei online ist der Artikel derzeit nicht zu haben (bloß der des FAZ-Fernsehblogs neulich). +++

+++ Ferner beschäftigt sich die SZ mit der neuen Journalistenschule des Bauer-Verlags bzw. mit dem, was die Journalistenschüler dort verdienen. +++ Vor allem aber führt die SZ-Medienseite ein Gespräch mit dem US-Schauspieler Noah Wyle, derzeit auf dem Pay-Kanal TNT Serie in der Steven Spielberg-Produktion "Falling Skies" zu sehen. In dem Interview muss also auch etwas verkauft werden ("Im eigenen Land sind die Amerikaner auf einmal Widerstandskämpfer?" - Wyle: "Genau. Wir sind die Taliban. Mal sehen, wie die Serie im amerikanischen Hinterland ankommt. Ich glaube, wir zielen besser auf das liberale Publikum an den Küsten"). +++

+++ Die FAZ würdigt in der verbliebenen Randspalte ihrer Medienseite 35 das 150-jährige Bestehen des "L’Osservatore Romano". +++ Die TAZ dagegen würdigt unter der Überschrift "Folterporno im Kulturkanal", dass Arte im Rahmen seines donnerstagsspätabends erweiterten Kulturbegriffs nun die japanischen "Sasori"-Filme zeigt, die Quentin Tarantino zu "Kill Bil" inspirierten. +++ Die BLZ würdigt Götz Alsmann wg. 15 Jahren "Zimmer frei". +++

+++ Die TAZ meldet ferner, was der 2012 ausscheidende ZDF-Intendant Markus Schächter künftig auch macht: Er wird neuer Stiftungsratsvorsitzender der Stiftung Zukunft Berlin und damit Klaus Töpfers Nachfolger. +++ Was der Altpapier-Gründer Christoph Schultheis (Foto hier, rechte Randspalte unten) jetzt macht? Er leitet die Redaktion von raufeld-content.de (siehe meedia.de, kress.de). +++

+++ Da schau her, auch in anderen Ländern gibt es Berichte über die Frauen-Fußball-WM. Der Tsp. schaut nach Frankreich. +++ "Reporter mit Grenzen": die Überschrift ebd. zu Tilmann P. Gangloffs Besprechung des Arte-Fernsehfilms "Waffenstillstand" mit Hannes Jaenicke als Kameramann im Irak. +++

+++ Noch rasch zwei Blicke in deutsche Subdebatten der Medien- und Netzpolitik: Auf leistungsschutzrecht.info gab der FDP-Politiker Jimmy Schulz ein bemerkenswertes Interview zum Leistungsschutzrecht, bei dem also weiter unklar ist, ob und wenn, in welcher Form es denn kommt. +++ Meanwhile in der Enquête-Komission (der für "Internet und digitale Gesellschaft), fand eine interessante "Selbstzerfleischung der netzpolitischen Bewegung" statt (netzpolitik.org). +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.