Scheitern als Chance

Scheitern als Chance

Fußfesseln, Ohrfeigen, Schraubzwingen, Tanzerwartungen und ein Teufel an der Wand: Medien und Medienmacher mal wieder in diversen Bredouillen. Teils natürlich auch auf schönen Stellen.

Die Medienzahlen dieses Mittwochs lauten: 5,1/4, 4,2 Prozent, 58 und 10.000. Bei den jeweiligen Einheiten handelt es sich um: die Haftstrafe für den Angeklagten im Kika-Prozess in Jahren, den Umfang des Rückgangs der Zeitungsanzeigen in den ersten vier Monaten des laufenden Jahres ("Volumen in Millimetern"), betriebsbedingt abgebaute Stellen bei der Frankfurter Rundschau sowie Anzeigen- und Sponsoring-Geld des "Verschlossene Auster"-Co-Preisträgers 2011, RWE, für die Netzwerk Recherche-Jahrestagung 2010 in Euro.

Die Zusatzzahlen lauten: 23.40 Uhr (Houellebecq-Premiere) und 17.06 bis 17.46 Uhr (siehe ganz unten im Altpapierkorb).

In die Details: Gestern fiel, wie gestern erwartet, im Erfurter Landgericht das Urteil gegen früheren leitenden Mitarbeiter des Kinderkanals. Wegen "Bestechlichkeit in Tateinheit mit Untreue" wurde Marco K. zu fünf Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt.

"Der Angeklagte wirkte gelöst, als er am Dienstagmorgen mit Hand- und Fußfesseln in den Verhandlungssaal geführt wurde. ... Es hatte den Anschein, als befreie ihn das Urteil",

schreibt leicht paradox Olaf Sundermeyer in der FAZ. Eher "demütigend" fand dagegen Ulrike Simon von der Berliner Zeitung die Fesselungs- und Entfesselungs-Prozedur im Gerichtssaal. In der Beurteilung der Verurteilung sind sich die Beobachter jedoch recht einig:

"Dies war noch nicht das letzte Urteil" (FAZ), schließlich wird "gegen zwölf Personen ...noch immer ermittelt". "Das Ende eines der größten Skandale im System des öffentlich-rechtlichen Rundfunks bedeutet dieses Urteil jedoch nicht" (BLZ). "Es ist ein hohes Strafmaß für den Angeklagten und zugleich eine schallende Ohrfeige für den Mitteldeutschen Rundfunk" (Süddeutsche). "Der Umstand, dass der Angeklagte über Jahre unbemerkt Gelder abzweigen konnte, sei ein Ansehensverlust für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, den sich der MDR selbst zuzuschreiben habe", zitiert der Tagesspiegel K.s Verteidigerin Doris Dierbach.

Simon bringt in der BLZ noch deutlichere Zitate der Verteidigerin (ohne allerdings ihren Namen zu nennen):

"Frank Beckmann, der in jener Zeit, in die der Großteil der Straftaten fiel, Programm-Geschäftsführer des Kika war, warf sie vor, er habe offensichtlich nur das getan, was ihm Spaß bereitet habe und sich von 'weniger Glamourösem' wie dem Überprüfen von Rechnungen oder dem Schaffen von Strukturen ferngehalten. (...) Beckmann habe 'nichts gemerkt, nichts gesehen und nichts gewusst' und dies nicht einmal vor Gericht im Nachhinein bedauert. 'Was ist das für ein Vorgesetzter?', fragte die Verteidigerin in ihrem Plädoyer und empörte sich, dass er dafür dann auch noch mit einer 'noch schöneren Stelle belohnt worden' sei. Beckmann ist mittlerweile Fernsehdirektor des NDR."

Wo bleibt dabei das Positive? In der TAZ, die es für sinnvoll hält, eine erbauliche Sprechblase von Beckmanns Nachfolger zu zitieren:

"Mit dem Urteil sei ein weiterer wichtiger Schritt zur Aufarbeitung des Betrugsfalles getan worden, sagte Steffen Kottkamp, Kika-Programmgeschäftsführer, in einer ersten Reaktion. Nun könne man sich wieder mit ganzer Kraft den eigentlichen Aufgaben zuwenden, nämlich ein gutes Kinderprogramm zu machen."

Womöglich hängt das damit zusammen, dass an einer anderen Front die TAZ auch zu den Freunden des öffentlich-rechtlichen Fernsehens zählt. Damit zur zweiten Zahlenkolonne: Gestern bat der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger zur Jahres-Pressekonferenz in Berlin und verkündete sehr sehr viele Zahlen (BDZV), darunter den Rückgang der verkauften Auflage pro Tag im jahr 2010 auf insgesamt 24 Millionen Exemplare. Und den der gebuchten Zeitungsanzeigen in den ersten vier Monaten des laufenden Jahres um 4,2 Prozent. Die Verlage der Zeitungen, in denen immer so viel von der guten Konjunktur die Rede ist, zählen also nach eigenen Angaben zu denen, die diese "bisher nicht erreicht" hat.

Der Tagesspiegel berichtet erwartungsgemäß neutral über die laufenden Kämpfe der Verleger gegen ihre beiden großen Gegner, eben das öffentlich-rechtliche Fernsehen mit seiner "Tagesschau"-App, sowie Google, über das die Verleger sich ebenfalls offiziell beklagt haben (gegenüber Bundeskartellamt und EU-Kommission).

Weitere zahlenreiche Berichte bieten kress.de und die FTD, die überdies den Versuch eines in einer Großverlags-Zeitung erscheinenden und dennoch vernünftigen Kommentars unternimmt: "Die Forderung, die Wilderei im Privat-Revier zu beenden, ist ...berechtigt", schreibt Annette Berger. Recht hat demzufolge das an der Verlageklage selbst gar nicht beteiligte Privatfernsehen, wenn es darüber klagt, dass das ZDF ihm die Champions League-Rechte entreißt.

In solchen komplexen Fragen hat es natürlich leichter, wer sich nicht auf wenigen Zeilen bedruckten Papiers äußern muss, sondern in der endlosen Länge des Internet ausdrücken kann. Von dieser Freiheit macht auch Stefan Niggemeier Gebrauch und setzt sich noch einmal ausführlich mit dem "amtierenden Lautsprecher" der gegen die "Tagesschau"-App streitenden Verlage, dem Springer-Lobbyisten Christoph Keese (und dessen Blog presseschauder.de) auseinander. Berichten die Zeitungen, deren Verlage klagen, über diese Klage halbwegs vernünftig oder wissen die Medienredakteure der Zeitungen, "welcher Tanz von ihnen erwartet wird"? Das ist sein Thema. Jedenfalls könnte die Debatte bald sozusagen spannender werden, deutet Niggemeier an:

"Die nächste große 'Bild'-Kampagne ist allerdings in Arbeit. In der ARD bereitet man sich auf das Schlimmste vor und rechnet damit, dass die echten oder vermeintlichen Enthüllungen der 'Bild'-Zeitung in den nächsten Tagen oder Wochen maßgeschneidert zum juristischen Vorgehen der Verlage erscheinen werden."

[listbox:title=Artikel des Tages[BLZ zum Kika-Urteil##FAZ zum Kika-Urteil##meedia.de zur Verleger-PK##Tsp. über Netzwerk Recherche-Zahlen]]

Sozusagen ein, zwei (Meta-) Ebenen weiter unten und einen Tick entspannter sieht meedia.de-Neuzugang Christian Meier die BDZV-Agenda ("Mit dem Verkauf von Zeitungen an Leser verdienen Verleger inzwischen mehr Geld als mit Werbung. Wie ist das bei sinkenden Auflagen möglich? Recht einfach: Die Preise der Blätter steigen munter") - und das obwohl er die neue Metapher der Schraubzwinge in die Debatte einführt ("Die Angst vor der digitalen Schraubzwinge").

Das papiergewordene Exempel für alle von Verlegern an die Wand gemalten Teufel kommt heute auf den Medienseiten in Form knapper Meldungen in konkurrierenden Blättern (TAZ, Tagesspiegel) vor: Die Frankfurter Rundschau baut im Zuge ihrer überregionalen Quasifusion mit der Berliner Zeitung "insgesamt 58 Stellen betriebsbedingt und über einen Sozialplan" ab.

Der EPD weist in seiner Meldung übrigens darauf hin, dass die Zahl der betroffenen Stellen noch gestiegen ist:

"Im April hatte der DuMont-Konzern angekündigt, dass bei der FR unterm Strich 44
Stellen wegfallen sollen. DuMont-Sprecherin Cornelia Seinsche sagte dem epd, die jetzt
kommunizierte höhere Zahl sei auf 'Veränderungen in der Planung' zurückzuführen."


Altpapierkorb

+++ Simone Schellhammer hat für den Tagesspiegel in den ersten Finanzbericht überhaupt des Netzwerks Recherche geschaut. Für die Jahrestagung 2010 hätten die Bank Ing DiBa 30.000 Euro und der Energiekonzern RWE - in diesem Jahr Co-Preisträger des Negativ-Preises "Verschlossene Auster" - 10.000 Euro für Anzeigen und Sponsoring gezahlt. Das Netzwerk selbst verfügt nach Auskunft seines Geschäftsführers und "einzigem hauptamtlichen Angestellten" Günter Bartsch weiterhin über "Energie und Motivation" und plant im November eine Tagung zum Thema "Scheitern als Chance". +++

+++ "Weit mehr als 91 Abhöropfer" vermutet Scotland Yard im Skandal um das britische Rupert Murdoch-Blatt "News of the World", in dessen Auftrag die Handy-Mailbox eines 2002 ermordeten Mädchens manipuliert wurde. Die Zahl 91 bezieht sich auf PIN-Codes für Handys, die die Polizei bei einem Beteiligten fand. Ausführlich über das Vorgehen der "Gossenzeitung" informieren Hans Leyendecker und Katharina Riehl in der Süddeutschen. +++

+++ Mit 35,6 Millionen Besuchern auf der Webseite überholte die Huffington Post trotz aller Kritik im Mai erstmals die New York Times. Jetzt expandiert das (bekanntlich von AOL besessene) Portal nach Großbritannien und bald auch weiter, u.a. nach Frankreich (Tagesspiegel). +++ Die Berliner Zeitung bringt in ihrer Internet-Glosse eine kleine Fabel über Googles Gesichtserkennung. +++

+++ Um 23.40 Uhr feiert, falls man um 23.40 Uhr von Feier sprechen kann, auf Arte Michel Houellebecqs Spielfilm "Die Möglichkeit einer Insel" seine deutsche Premiere. Ergo rezensieren Houellebecq-Kenner den Film: Hubert Spiegel in der FAZ ("Es liegt eine stille, verlangsamte und auf verquere Weise würdevolle Trostlosigkeit über den ersten Minuten dieses Filmes, die neugierig macht", die sich dann aber als "falsches Versprechen" entpuppe). +++ Houellebecq "scheitert an sich selbst" (Jens Müller, TAZ). Er "scheitert", "der Film, ist leider das geworden, was Houllebecq mit seinen unterhaltsamen Romanen tunlichst vermeidet: ambitionierter Kunstquark" (Gerrit Bartels, Tsp.). +++

+++ Der Stromausfall beim ZDF am Montagnachmittag (wegen "Stromüberlastung", wie nun ermittelt wurde). Von 17.06 Uhr bis 17.46 Uhr fand er statt und betraf also die Sendungen "hallo deutschland" (Boulevardmagazin um 17.15 Uhr) und, leider nur kurz, "Leute heute" (Boulevardmagazin um 17.45 Uhr) - vielleicht also war's ein versöhnliches Signal in der Diskussion um öffentlich-rechtliches Fernsehen, jedenfalls eine kleine Qualitätsoffensive im Sinne Claudius Seidls: Weiter so, ZDF! +++
 

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.