Kein Schweigen, nirgends

Kein Schweigen, nirgends

Medien knallen weiter durch, Datenschützer empören sich wieder, außer Jörg Kachelmann feiert auch Horst Köhler sein Interview-Comeback: wie weit wir heute wieder im Internet-Zeitalter gekommen sind.

"Die Gesellschaften werden nicht mehr von den Massenmedien formiert, sondern durch ein zunehmend globales Medienuniversum mit einer Vielzahl von vernetzten Sendern. Dadurch bilden sich neue, mit den herkömmlichen Öffentlichkeiten sich verzahnende und verschwimmende Kommunikations- und Informationsräume heraus, redaktionell aufbereitete Medien ... ...werden in Zukunft teilweise ebenso wie die Journalisten durch Algorithmen ersetzt, die automatisch mit mehr oder weniger künstlicher Intelligenz Informationen sammeln, aufbereiten, aktualisieren und zusammenstellen."

Aus einer merkwürdig akustisch orientierten, aber schön übersichtlichen Medienapokalypse von Florian Rötzer in der TAZ, an deren Ende der Telepolis-Chefredakteur prophezeit, dass zusehends mehr Zeitgenossen

"lieber in einer selbst gewählten auditiven Wüste mit wenigen akustischen Oasen zum Niederlassen leben werden."

Verzwickt vielfältig aber auch die tagesaktuelle Neuigkeitenlage in den weiten Feldern um kontinuierliche kalifornische Innovation und kurzfristig gestoppte deutsche Konsumption digitaler Medien. Zum Facebook-Tool der ungewollten Gesichtserkennung liegen u.v.a. frisch vor: ein kleines SZ-Meinungsseiten-Feuilleton von Andrian Kreye ("Damit aber verliert der digitale Mensch die Fähigkeit, sich im Netz neu zu erfinden. ... Nun aber muss er sich mit etwas auseinandersetzen, das er nur bis zu einem gewissen Grad kontrollieren kann - dem eigenen Gesicht und damit der eigenen Person"), der SPON-Bericht "Facebooks Gesichtskontrolle empört Datenschützer" inkl. Exklusivzitat vom relativ prominentesten deutschen Datenschützer Johannes Caspar aus Hamburg, ein datenschützerkritischer, dennoch irgendwie resignierter tazzwei-Kommentar und ein instrutiver, jedoch auch ein Exklusivzitat des FDP-Politikers Jimmy Schulz enthaltender FTD-Artikel.

Zur Razzia beim abgeschalteten, doch nicht auf den Tonga-Inseln, eher wohl in Sachsen beheimateten Entertainment-Angebot kino.to empfehlen wir die aktualisierten Berichte von heise.de (dreizehn oder vierzehn Festgenommene, "über 20 Wohnungen, Geschäftsräume und Rechenzentren", "250 Polizisten und Steuerfahnder sowie Datenspezialisten", entweder 4.000.000 oder 400.000 oder über 250.000 Nutzer täglich...). Mit einem Razziafoto illustriert und zugespitzt ("Dank weltweiter dubioser Werbekunden (Porno-Anbieter, Hersteller gewaltverherrlichender Computerspiele) soll 'kino.to' Millionen gescheffelt haben") ist der Bericht der Leipziger Bild-Zeitungs-Ausgabe. Haben denn Nutzer der Seite etwas zu befürchten? Nein, aber..., antwortet Rechtsanwalt Christian Solmecke (faz.net, SPON).

Generell verschärft sich der Trend, im hiesigen Rechtsstaat alles, was Medienjustiz und Justiz-interessierte Medien hergeben, mit teilweise enormer Geduld in Gerichtsprozessen zu klären zu versuchen. Da wäre zunächst die auf noch mehr Ebenen weiter eskalierende Kachelmannsache. Nicht nur geht die "Exgeliebte und Nebenklägerin" in Revision (z.B. TAZ), sondern auch der Burda-Verlags-Vorstand Philipp Welte gegen Kachelmannanwalt Johann Schwenn vor, der sich seinerseits "auf Weltes Glaubhaftmachung freue" (Süddeutsche).

Da Kachelmann "inzwischen weder auf einen Ruf als Sympathieträger noch auf das Wohlwollen der Medien Rücksicht nehmen muss, kann er fast ungehemmt die Auswüchse des Spektakels um ihn herum dokumentieren", freut sich wiederum Stefan Niggemeier. Und dokumentiert ein zunächst von @J_Kachelmann selbst via Twitter dokumentiertes Foto eines (man muss wahrscheinlich schreiben: mutmaßlichen) Telegramms der Bunte-Chefreporterin Tanja May an eine andere seiner Exgeliebten. Beim Twitterdienst Twitpic sei dieses Foto aus rätselhaften Gründen gelöscht worden. Aber in der Digitalsphäre verschwindet ja nichts, zumindest nichts, von dem irgendjemand möchte, dass es verschwindet, darum also kreist Niggemeiers Beitrag.

Dass Kachelmann aufs Wohlwollen der Medien keine Rücksicht nehmen muss, heißt jedoch keineswegs, dass heute nicht auf drei großen Seiten der Wochenzeitung Die Zeit ein mit drei weitgehend identischen Fotos Kachelmanns illustriertes Interview (S.15-18) mit ihm erschienen ist. Darin sagt Kachelmann Sachen wie, nur zum Beispiel:

"In den Zeitungen stand viel Unsinn. 'Bild' schrieb zum Beispiel: Kachelmanns Verteidiger schlug auf den Richtertisch. Das ist nicht wahr. Er schlug nicht. Er brüllte auch nicht. Die Geschichte vom brüllenden Verteidiger ist eine Erfindung durchgeknallter Medien. ... ..."

Und:

"Vielleicht brauche ich das Fernsehen noch für meine Botschaft. Die lautet: Wenn in deutschen Knästen alle Häftlinge tot umfallen würden, die Taten zugegeben haben, die sie nicht begangen hatten, wären die Knäste halb leer. Viele Beschuldigte werden erpresst... ..."

Wer jedenfalls in der Kachelmannsache den Ehrgeiz hegt, halbwegs am Ball zu bleiben, kommt nicht umhin, das von Stefan Willeke und der Kachelmannprozess-Celebrity Sabine Rückert geführte Interview ganz durchzulesen.

[Am Rande ein Treppenwitz zumindest der Zeit-Geschichte: Die Ausgabe 24/ 11, in der Kachelmann sein Schweigen bricht, ist auch die Ausgabe, in der (auf nur anderthalb Seiten, aber weiter vorn im Blatt) Horst Köhler (natürlich nicht in seiner Eigenschaft als Vorvorgänger des IWF-Chefs Dominique Strauss-Kahn, sondern in der als zurückgetretener Bundespräsident) sein Schweigen bricht. Fast fragt man sich schon, warum ausgerechnet Freiherr KT zu Guttenberg sein Schweigen nicht bricht. Kommt er nächste Woche, oder hat er etwas zu verbergen?]

[listbox:title=Artikel des Tages[Gesichtserkennungs-Bericht (FTD)##Gesichtserkennungs-Feuilleton (SZ)##kino.to-Razzia (heise.de)##JK als enthemmter Medienbeobachter (Niggemeier)##Ein TV-Interview vor neun Jahren (sueddeutsche.de)##Pluralis journalistis (wirres.net)##Carta-"Sommerpause"]]

Ein Steckenpferd von sueddeutsche.de und verblüffend interessant ist die Beobachtung des oder präziser: eines der vielen Prozesse, die der inzwischen schon relativ vergessene ehemalige Medienmogul Leo Kirch nun vorm Oberlandesgericht München gegen die Deutsche Bank oder deren Exchef Rolf Breuer führt. Gerade gab's einen unterhaltsamen Bericht zum Zeugenauftritt des ehemaligen Medienkonzernchefs, ehemaligen Kaufhauskonzernchefs und erfolgreichen Immobilieninvestoren Thomas Middelhoff. Und jetzt gelingt es Hans von der Hagen tatsächlich, spannend zu schildern, wie genau im Jahre 2002 ein Interview des auch damals nicht ungeheuer bekannten Senders Bloomberg TV mit Breuer zustande gekommen war.
Das nur, um die oben erwähnte enorme Geduld, die deutsche Gerichtsprozesse erfordern, zu unterstreichen.

Von Leo Kirch ist es schließlich nur ein Katzensprung zum Wichtigsten - der Fußball-Bundesliga. Gestern an genau dieser Stelle äußerten wir [wenn ich "wir" schreibe, ist das übrigens kein "pluralis journalistis", wie Felix Schwenzel ihn anhand des schönen FAZ- Tagesspiegel-Satzes "Wir haben es mit unserer Partnerin ausprobiert" definiert, sondern meint das keineswegs immer einige, aber mehrköpfige Kollektiv der Altpapier-Autoren] Spannung auf Michael Hanfelds Meinung zum Sommerloch-Hit "'Sportschau' in Gefahr?". Hanfeld tut uns den Gefallen und schreibt heute auf S. 31 der FAZ unter der Überschrift "Panikmacher":

"Alle Jahre wieder, wenn die Senderechte der Fußball-Bundesliga zum Verkauf stehen, wird geunkt, jetzt gehe es der 'Sportschau' an den Kragen...

Der Preiskampf um den Fußball - den zuletzt bei allen Wettbewerben die öffentlich-rechtlichen Sender für sich entschieden - ist aber auch ein Lackmustest. An dessen Ergebnis wird man ablesen können, wie weit wir im Internetzeitalter gekommen sind..."

  


Altpapierkorb

+++ Immer noch sehr selbstbewusst, zu selbstbewusst, sei man bei der Frankfurter Rundschau, meinen zumindest die Redakteure der Berliner Zeitung, die die Frankfurter Rundschau ja künftig mit produzieren sollen. Von "Knatsch" bei der DuMont-Presse berichtet anlässlich eines heutigen Streiks (anlässlich eines neuen Gehaltstarifvertrags allerdings) Steffen Grimberg in der TAZ. +++ 

+++ Gestern wurden in Hamburg die bekannten Leadl Awards verliehen. Ein Markus Peichl-Interview "über neue und leidenschaftliche Magazin-Konzepte" gibt's in der BLZ. +++ Die Preisträger gibt's sicher demnächst auf der Seite der zuständigen "Lead Academy". +++ Aber bei bild.de, nicht ohne Anlass ("Und der Medien-Oscar geht an... BILD!"). +++ Immerhin, an Carta ging auch einer. "Die Auszeichnung mit einem Lead Award ist daher für mich auch ein Anlass, das Projekt mal in die Sommerpause zu schicken", schreibt dazu etwas rätselhaft Robin Meyer-Lucht. +++ Zuvor erschienen: Wolfgang Michals Ärger über AGBs, die Gruner & Jahr an freien Mitarbeiter seiner Wirtschaftsmedien schickte ("Die Vertragswirklichkeit hat das Urheberrecht in eine Kapitulationserklärung verwandelt. Die Verwerter rauben den Urhebern alle Rechte"). +++

+++ Jakob Augstein, Spiegel-Mitbesitzer und Verleger der Wochenzeitung Freitag, steht dem Medienjournalismus bekanntlich eher kritisch gegenüber. Heute versucht er mit einer kunterbunten Achterbahnfahrt, in der auch Michael Hanfeld wieder vorkommt, ihn am Rande aber doch mal selbst mitzuerledigen ("Die Zeitungsverlage und die Politik wollen ARD und ZDF schwächen. Diese unheilige Allianz gefährdet unsere Demokratie"). +++

+++ Hengstbissige Medienblogger? Stefan Winterbauer (meedia.de) vs. Dr. Kai Gniffke. +++  Indes hat Chefredakteur Georg Altrogge mit niggemeierhafter Akribie, bloß visuell weniger zwingend, Nachrichtenagenturtexte über dann doch ausgebliebene Leichenfunde in Texas zusammengestellt. +++

+++ Der "zeitlose Zauber der zauberhaften Grace Kelly" beruht auf ungefähr ebenso unterschwelliger wie überirdischer Erotik, wenn wir Thilo Wydra richtig verstehen. Was die heute bei 3sat gereichte, vom britischen Channel 4 produzierte, vom ORF eingedeutsche Dokumentation "Gracia Patricia – Der Preis des Ruhms" überdies noch attraktiv macht: Spekulationen über einen "Orden" sogenannter "Sonnentempler" (Tagesspiegel). +++

+++ Wolf-Dieter "Poschmann ist nicht vergleichbar mit Vorgängern wie Harry Valérien, Dieter Kürten, Hanns Joachim Friedrichs oder Günther Jauch. Das ZDF-Sportstudio war, als es von diesen Männern beseelt war und präsentiert wurde, eine wichtige, eine interessante, eine relevante Sportsendung" schreibt Christopher Keil, SZ) zu Poschis angekündigtem Abschied +++

+++ Wie aus 75 Stunden eine ca. zweistündige GNTM-Show wird? Tsp. +++

+++ Und wer jetzt noch gern eine ausführliche Medienapokalypse benötigt, muss sich diesen u.a. Wired-basierten Artikel von Jörg Wittkewitz auf der FAZ-Medienseite ("Für Amerika ist das Internet ein Schlachtfeld. Das Militär rüstet mit dem Programm 'Insight' auf. Doch was für den Krieg gedacht ist, kann überall Anwendung finden. Uns droht die elektronische Fußfessel") besorgen. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.