Digitale Ewigkeit

Digitale Ewigkeit

Markworts Facebook für Tote ist freigeschaltet (erfordert aber einen Meldecode), Markus Offer rockt die Presse, Journalistenbücher fluten den Markt.

Es gibt einen neuen Shootingstar der digital-medialen Empathie. Internetnutzer und Fernsehzuschauer kennen Michael Offer, den womöglich beim Unterlagenausteilen etwas langsamen, inzwischen ehemaligen Sprecher des Bundesinnenministers Wolfgang Schäuble, schon seit Tagen. Seit heute kennen ihn auch Leser von Qualitätszeitungen, die ihm nämlich geradezu flächendeckend Seite drei-Reportagen ihrer Parlamentsredaktionen widmen und teils auch (SZ, Bild-Zeitung) gar den Ministerrücktritt antizipieren.

(Und falls wer Offer immer noch nicht kennt: hier ein zusammenfassender faz.net-Beitrag incl. eingebundenem, noch nicht ganz halbmillionenfach abgerufenem ZDF/ Youtube-Video).

Selbstredend hat sich bereits der Medienbeobachter empört, der sich stets am verlässlichsten empört: Michael Konken, der Vorsitzende des (gerade verbandstagenden, siehe DPA/ KSTA bzw. Twitter-Timeline [mehr zu Timelines siehe unten]) Deutschen Journalisten-Verbandes. Selbstredend galt seine Empörung dem Minister und nicht den auf Youtube im Hintergrund zu hörenden, hier ein bisschen auch zu sehenden Herrschaften im Publikum, die während der Pressekonferenz das Recht der vierten Gewalt auf ausgedruckte Informationen einforderten und vermutlich ebenfalls bzw. erst recht Journalisten waren.

Ach, würden doch bloß die jungen Leute auf ausgedruckte Informationen ähnlich scharf sein, statt immer alles dem Internet zu entnehmen. Unseren Zeitungen ginge es deutlich besser. (Siehe auch ein Notat Wolfgang Michals bei Carta, sehen wir gerade).

Der Star der Medienressortnische dieses Mittwochs ist kein Shootingstar, sondern ein mehr als ausgewachsener sog. Platzhirsch: Helmut Markwort, nicht mehr Focus-Chefredakteur (was immer man von Markwort hält: So ein Cover hätte es unter ihm wohl kaum gegeben), hat nun noch einmal sein kürzlich schon mal vorgestelltes "Facebook für Tote"-Projekt vorgestellt.

Beim Pressetermin "tief im Gewölbe des Münchner Hofbräukellers" (DPA/ Tsp.) war, naturgemäß, die Süddeutsche Zeitung gut vertreten. Marc Felix Serrao, jener Medienjournalist, der dank Konstantin Neven DuMont über den Nischentellerrand hinaus Bekanntheit erlangte, schreibt launig:

"Für alle, die ihre Lebenszeit gerne vor Bildschirmen verbringen, gibt es nun auch einen Ort, an dem sie sich tummeln können, wenn ihr Leben, also die analoge Version, am Ende ist".

Besichtigen wir rasch das nunmehr freigeschaltete, von der Stayalive Portal GmbH & Co. KG aus der Ritter-Hilprand-Straße 1B in 82024 Taufkirchen verantwortete Portal namens stayalive.com. Besonders berührt beim ersten Drübersurfen die Seite mit der Aufforderung "Geben Sie hier bitte den 'Meldecode im Todesfall' ein, den Sie erhalten haben."

Ohne jetzt zu tief ins Jenseits eindringen zu wollen: Selbstverständlich ist die Idee Markworts und seines Kompagnons Matthias "Mucki" Krage nicht ganz neu. Ein "Trauernetz" etwa gibt es, nur zum Beispiel, auch bei evangelisch.de. "Trauerportale und digitale Todesanzeigen gebe es viele im Netz, erklärte Krage. Die kämen aber alle 'aus der alten Welt'", zitiert Serrao.

Noch rasch zum Geschäftlichen: "Wer einmalig und dann nie wieder fürs virtuelle Grab bezahlen will, überweist pauschal 499 Euro."

[listbox:title=Artikel des Tages[Carta kurz über Offer##Serrao über stayalive.com (SZ)##Tsp. ausführlich über Journalistenbücher##Carta über social Zeitfresser]]

Preisgünstiger könnte es sein, zumindest oder zumal für Journalisten, sich einfach durch das Verfassen eines oder sogar mehrerer Bücher zu verewigen. Fritz J. Raddatz, Werner Sonne, Alexander Osang, Harald Martenstein, Jörg Harlan Rohleder, Moritz von Uslar (performt übrigens demnächst live in Zehdenick-Hardrockhausen, und die TAZ ist schon ganz gespannt), Benjamin von Stuckrad-Barre, Florian Illies, Max Dax, Frank Schirrmacher - sie alle haben es schon getan. Der Tagesspiegel zählt soviele Namen geduldig auf, dass man sich fast fragt, ob nicht mal ein Buch über Bücher-schreibende Journalisten geschrieben werden müsste. Zumal der Tagesspiegel-Text selbst schön lebhaft geschrieben ist:

"'Es ist total großartig, etwas zu erfinden!' ruft Sophie Albers begeistert ins Telefon".

Albers ist Redakteurin bei stern.de, war früher bei der vorgestern vor zehn Jahren geborenen, Ende 2009 unter den Händen von DuMont Net sang- und klanglos verstorbenen Netzeitung (völlig am Rande: schade, dass darüber niemand etwas schrieb) und schreibt ebenfalls ein Buch.

Ist es denn ein Trend, dass jetzt so viele Journalisten Bücher schreiben? Nö, meint die Literaturagentin Karin Graf. Doch, meint Tagesspiegel-Literaturredakteur Gerrit Bartels, und der habe damit zu tun, dass anders als früher Journalisten inzwischen dazu neigen, Journalistenbücher wohlwollend zu lesen: "Zuweilen erkennt man, was unangenehm ist, richtiggehende Feuilletonseilschaften."

Gerade da nennt der Tagesspiegel, was schade ist, keine Namen.



Altpapierkorb

+++ Das, was Twitter "Timeline" und Facebook "News Feed" nennt, das war "technologisch ein echter Durchbruch". "Allerdings geht mit dieser Errungenschaft auch ein Problem einher: Bei den meisten Usern werden es mit der Zeit zu viele Meldungen, die obendrein noch eine erhebliche Redundanz ... mit sich bringen können": Anlässlich der von Twitter jetzt immer etwas nervtötend angepriesenen Neuerungen hat Matthias Schwenk für Carta einen klugen, auch für Twitter-Skeptiker gut verständlichen Artikel über derlei Phänomene geschrieben: "Ein Social Network sollte kein Zeitfresser sein." +++

+++ Wenn demnächst die Haushaltsgebühr die GEZ-Gebühr ersetzt, "müsste zum Beispiel ein Betrieb mit einer Filiale und 200 Mitarbeitern künftig 71,92 Euro monatlich zahlen, ein Betrieb mit vier Filialen und jeweils 50 Mitarbeitern schon 287,86 Euro und ein Betrieb mit zehn Filialen und jeweils 20 Mitarbeitern 359,60 Euro". Denn es kommt auf die "Mitarbeiter-pro-Fernseher-Quote" an, so die Süddeutsche. +++ Damit Zahler für ihre Gebühren auch was geboten bekommen, will "die Unionsfraktion im Bundestag ... die Einrichtung eines 'Ältestenrates' prüfen, der über die Qualität im Rundfunk wachen soll" (meldet auf wenigen Zeilen ebenfalls die SZ). +++

+++ 25 Jahre alt wird die Nachwuchsreihe "Debüt im Dritten" des SWR-Fernsehens. Heute beginnt sie mit dem Kinofilm "Es kommt der Tag", in dem auch Iris Berben mitspielt. Es gratuliert die TAZ. +++

+++ Trotz Iris Berben! gratuliert allein die TAZ? Das liegt an Veronica Ferres, deren neuestes Werk "Rosannas Tochter" heute die ARD ausstrahlt. "Es gibt Stadtteile in Berlin, in denen Frauen um die 30 beschließen, für immer wie mit 29 zu leben. Es gibt Magazine aus München, die wissen, wie 30-Jährige als Eltern glücklich werden. Und es gibt Filme mit Veronica Ferres, in denen Veronica Ferres als der Gegenentwurf einer Lebenswirklichkeit aufgebaut wird, die man vielleicht gar nicht kennen möchte", leitet Christopher Keil (SZ) seine womöglich wohlwollende Besprechung ein. "Fragt sich nur, wer hilfloser ist angesichts der Fülle an Dilemmata - das Personal oder die Autoren. Die Schauspieler müssen dabei wohl als Kollateralschäden verbucht werden", so überhaupt nicht wohlwollend Andrea Diener in der FAZ (S. 33). "Was ein Horrorfilm sein könnte, endet im Sozialkitsch" (Tsp.). "Feine Gesamtleistung" (Helge Hopp, DuMont-Presse). +++

+++ Was mit Internet hat der MDR angestellt: eine "virtuelle Geschichtsstunde": "350 Schüler aus bundesweit 16?Schulen waren eingeladen, Fragen zu stellen - von ihrem PC aus. Der Videochat war der erste seiner Art", schreibt die Rundschau relativ angetan. Weniger angetan die SZ. Die Chatprotokolle gibt's als Texte auch online zum Nachlesen. +++

+++ Personalabbau "in dreistelliger Höhe", und diese Bombe schlug auch noch durch die Presse bzw. den EPD bei der Deutschen Welle ein (TAZ). +++ Mit Europarltv, dem Fernsehkanal das Europäischen Parlaments, und anderen journalistischen Aktivitäten europäischer Institutionen, die ihre Aktivitäten vorteilhafter dargestellt sehen wollen, befasst sich ausführlich die FAZ (S. 33, derzeit nicht frei online). +++

+++ Was die sog. Kreativen des Unternehmens Jung von Matt im Namen des Autovermieters Sixt bei den Anti-Castor-Demonstrationen anstellten, war das "zutiefst parasitär" und "Missbrauch der Demonstrationsfreiheit"? Haben "die Werbeheinis ...unbeabsichtigt etwas Grossartiges geleistet", nämlich die "ganz richtig als 'Mitte unserer Gesellschaft' beschrieben"? Lebhafte Debatte bei Carta. +++ "Mit ihrer 'Guerilla-Aktion'" haben sie "in Minutenschnelle geschafft, was der Regierung nicht gelingt: die Atomkraftgegner als Idioten hinzustellen. Das soll wohl witzig sein - klar ist, wo man jetzt nicht mehr mietet", würde TAZ-Kriegsreporterin Silke Burmester sagen. +++

+++ Ach so: "Kölnerin gewinnt bei 'X Factor'"! (Kölner Stadtanzeiger) +++
 

 

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.