Dorf, oh Dorf

Dorf, oh Dorf

Schlands Begeisterung für den neuen Grand Prix-Standort Düsseldorf hält sich in engen Grenzen. Eine 140 Mio.-Euro-Entscheidung! Die großen Dramen allerdings laufen anderswo ab.

Im Rahmen eines spannenden Bundesvision-Contests, bei dem man sich wundert, warum denn keine mehrfolgige Fernsehshow draus gestaltet wurde, fiel gestern unter mehreren Bewerbern die Entscheidung, in welcher deutschen Stadt nächstes Jahr der Schlager-Grand Prix aka "Eurovision Song Contest" stattfinden soll. Den Zuschlag der entscheidungsbefugten ARD-Intendantinnen und -Intendanten bekam das Hannover Nordrhein-Westfalens, die Landeshauptstadt Düsseldorf.

Schalten wir gleich dorthin, wo Hämekübel auch über die flachsten Niederungen der TV-Unterhaltung immer am eloquentesten ausgegossen werden, zu Hans Hoff in die Süddeutsche:

"Nun richtet man sich in Düsseldorf darauf ein, musikalische Vertreter und Fans aus über 40 Ländern empfangen zu dürfen. Die Hoteliers der Stadt hatten schon im Vorfeld versichert, dass trotz der parallel geplanten Messe 'Interpack' genügend Hotelbetten zur Verfügung stehen. Enormer Bedarf besteht..."

Nanu, was ist denn da los? Ach so, Hoff ist selber Düsseldorfer und möchte das eigene Nest natürlich nicht beschmutzen. Der kleine Artikel landete im Blatt übrigens auf der Vermischtes-Seite, genau wie der äquivalente FAZ-Beitrag ("Do bess de platt"/ "...Düsseldorf gehört bislang in Europa zu den unbekannten Metropolen. Das dürfte sich 2011, wenn Lena ihren Titel in der Esprit-Arena verteidigt, ändern").

Fabelhaft indigniert ist man immerhin am Grand Prix-Standort der Herzen, in Berlin. Die örtliche Rundfunkanstaltenleiterin Dagmar Reim platzte gestern nachmittag um 15.39 Uhr als erste mit der News heraus, und zwar mit demselben Statement, das Reim oder ihre Kommunikationsexperten auch für den Fall des Erfolgs gedichtet hatten ("Der Eurovision Song Contest passt zu Berlin, und die Stadt passt zum ESC...").

Dass der Geschäftsführer der Marketinggesellschaft "Visit Berlin" die Entscheidung für "im Ausland schwer vermittelbar" hält, erfährt man im Nachrichtenangebot des RBB. Was Bürgermeister Klaus "Wowi" Wowereit dazu sagte, auch auf der Medienseite der Berliner Zeitung.

Dort gibt's zum Thema überdies eine ausführliche Analyse: "Düsseldorf ist also eine Vernunftentscheidung. So richtig überzeugend wirkt sie nicht", schon weil Vernunft und ESC ja zu den größten denkbaren Gegensätzen überhaupt gehören. Mit den Worten "Für Lenas Mentor Stefan Raab ist es freilich ein Heimspiel. Sein Büro ... ist in Köln" geht die Berliner am Ende nonchalant darüber hinweg, dass die Kölner eigentlich zu den größten Gegnern der ansonsten eher unbekannten Metropole Düsseldorf gehören.

"Bitter ist die Entscheidung auch für Raabs Heimatstadt", also Köln, steht zwar im dortigen Stadtanzeiger noch im Vorspann. Doch im Artikel selbst fehlt von dieser Bitternis fast jede Spur. Es handelt sich um einen mehrfach aktualisierten DPA-Text, aus dessen kölscher Version ursprünglich enthaltene antidüsseldorferische Zitate aus dem NDR-Blog des offiziellen Grand Prix-Experten Jan Feddersen ("Ein unwichtiger Fußballklub, viel Modegetue, Tote Hosen und eine Biersorte, die nach aufgeschäumtem Rheinwasser schmeckt") zugunsten härter zahlenbasierter Expertenzitate (Düsseldorfs Stadtsprecher Kai Schumann: "Allein der Wert der kostenlosen Werbung, die Düsseldorf durch den Song Contest bekommt, wird von Experten auf 140 Millionen Euro geschätzt") entfielen.
Und im Vergleich mit Harrogate, wo dereinst Nicole für Deutschland gewann, sei Düsseldorf ja "eine vibrierende Weltmetropole", konzedieren die Kölner.

Das DPA-Original incl. Feddersen ist z.B. noch zu haben, ergänzt um die hyperlokale Info "Und Düsseldorf? Die Stadt hat null Bezug zu Lena", in der Neuen Presse aus der offiziellen Lena-Stadt Hannover.

[listbox:title=Artikel des Tages[Stadionatmosphäre bei der Kumpelrettung (Tsp.)##Verhaftete Reporter im Iran (TAZ)##ESC-Standort-Analyse (BLZ)##Lynchjustiz? netzpolitik.org über RTL2]]

Das wichtige Geschehen, die wirklich großen Dramen, die freilich keinen Neid hervorrufen, spielen sich gerade völlig woander ab, vor den Kameras der versammelten Welt in Chile, vor beinahe niemandes Auge im Iran.

Die Lage zweier dort verhafteter deutscher Journalisten versucht Bahman Nirumand in der TAZ zu beleuchten ("Sollte sich herausstellen, dass sie Kontakte zur Exilopposition unterhalten oder gar in deren Auftrag das Interview führen wollten, wird man sie vermutlich wegen Verletzung der nationalen Sicherheit und Spionage vor Gericht stellen"). Der Süddeutschen (S. 7) zufolge "handelt es sich bei den beiden Festgenommenen um Reporter, die im Auftrag der Bild am Sonntag unterwegs waren. Das Blatt selbst bestätigte dies am Dienstag allerdings nicht."

Unter der Überschrift "Stadionatmosphäre in der Wüste", ein Expertenzitat des N24-Reporters Alexander Privitera, versucht der heutige Tagesspiegel einen Überblick über die derzeit überall Übertragungen von den Rettungsarbeiten zu geben: "In dem Camp rund um die Kupfermine im chilenischen San José tummeln sich derzeit etwa 1.700 Journalisten, Fotografen und Kameraleute aus der ganzen Welt."

Nur zum Vergleich: In Düsseldorf zum ESC werden nächstes Jahr im Mai "etwa 20.000 Journalisten, Künstler, Fernsehfunktionäre und Fans" (Feddersen) aus sicherlich ebenfalls der ganzen Welt erwartet.


Altpapierkorb

+++ Spannend geht es heute in Straßburg zu. Vor der mit 17 Richtern besetzten Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Straßburg wird zweimal gegen Deutschland prozessiert, einmal von der Axel Springer AG (die gern namentlich "über einen TV-Kommissar..., der in kleinen Mengen Betäubungsmittel konsumiert hatte und der später zu einer Geldstrafe verurteilt worden war", berichten würde), einmal von Caroline von Hannover und Ernst August von Hannover (sowie von Prinz Matthias, pardon Matthias Prinz, "The celebrity lawyer"). Hans Leyendecker fasst auf der Süddeutschen-Medienseite 15 beides zusammen und meint: "Wirklich bedroht wird die Pressefreiheit in diesen Tagen in vielen Verlagen mehr von innen als von außen." +++

+++ Mehr Medienjustiz:Nehmen RTL2 und die "Tatort Internet"-Produktionsfirma "Lynchjustiz, oder zumindest die Zerstörung von Existenzen jenseits rechtsstaatlicher Strafverfahren billigend in Kauf?" netzpolitik.org macht auf Probleme um die Show mit Udo Nagel und Stephanie zu Guttenberg aufmerksam. +++ Vorbildliche Prozessberichterstattung in der TAZ: "Nun sagt Sabine W. (Name geändert) aus, die Frau, die ihn Anfang Februar angezeigt hatte". Christian Rath zieht Zwischenbilanz beim Kachelmann-Prozess. +++ "Immer weniger Journalisten, immer mehr Restriktionen": Die FAZ gibt einen Überblick über die Lage der Medien im Iran. +++ Die KEK will zur Erfüllung ihrer Aufgabe, also der "Ermittlung der Konzentration im Medienbereich", jetzt auch ins Internet schauen (Süddeutsche). +++

+++ Wieso heißen plötzlich alle Jörg? Zumindest stellt der Tagesspiegel heute sowohl den Fernsehschauspieler Jörg Schüttauf, am Montag im tatsächlich guten Fernsehkriegsfilm "Kongo" des ZDF zu sehen, als auch Jörg Pilawa vor, der ab heute im ZDF quizzt. +++ Pilawa soll angeblich zehn Monate Auszeit in Neuseeland verbracht haben ("Ich habe tatsächlich zehn Monate lang keinen Mediendienst gelesen, kein Fernsehen geschaut"). Daher führte Michael Seewald mit ihm ein FAZ-Gespräch, das in puncto Themenvielfalt und Tiefsinnigkeit klingt, als sei es schon wieder Harald-Schmidt-Interview in der Zeit. Pilawa sagt zum Beispiel: "Wir Medienschaffende nehmen uns in einer Form wichtig, die wir im realen Leben überhaupt nicht haben. Der Fernsehzuschauer guckt, ob es ihm gefällt oder nicht. Dann kommt man zurück und merkt: Es läuft alles wie immer. Das ist auch beruhigend." +++

+++ Einer der beliebtesten Topoi der deutschen Fernsehfilmkritik: tolle Schauspieler machen Drehbuchmängel wett. Heute in der TAZ wg. Anna Brüggemann und der Rolle, die sie im ARD-Film "Ein Praktikant fürs Leben" spielt. +++ "Allerdings verkleckert sich die Geschichte bald in Randbezirken" (Else Buschheuer in der SZ). +++ "Ebenso vorhersehbar wie unglaubwürdig" (BLZ). +++ Indes ein "Edelstein der NS-Aufarbeitung im Fernsehen" (FAZ): "Lieber Onkel Hitler" von Michael Kloft (23.30 Uhr, ARD). +++

+++ Doch wieder Frieden in und um Gütersloh. Thomas Middelhoff geht nicht gegen Bertelsmann vor (TAZ). +++ Das Berliner Radio Paradiso muss doch vor Gericht gehen, wenn es weitersenden will (Tsp.). +++

+++ HbbTV steht für "Hybrid Broadcast Broadbent Television"? Jedenfalls, "an der Fakultät für Ingenieurwissenschaften und Informatik der Fachhochschule Osnabrück", dort "lässt der Informatiker Karsten Morisse Fernsehen, Facebook und Internet neu zusammenwachsen" und von dieser "nächsten Revolution" berichtet in der FAZ (S. 35, derzeit nicht frei online) aus Osnabrück Harald Keller. +++

+++ Die Kollegen Kolumnisten: "Können Schweizerinnen nicht alleine schreiben?" (TAZ-Kriegsreporterin Silke Burmester). +++ "Wenn jemand, den ich doof finde, etwas blöd findet, werde ich es wohl gut finden" (Marin Majica über Kundenkommentare im Netz). +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.