Köhlerkrise und Goebombe

Köhlerkrise und Goebombe

Eine Bombe aus dem letzten Weltkrieg explodiert live bei Twitter. Außerdem: Wer ist eigentlich dieser Deutschlandfunk, der mit Horst Köhlers Rücktritt in Zusammenhang steht?

Späte, tragische und "irgendwie makabre" Premiere gestern: Gestern in Göttingen explodierte erstmals eine Weltkriegsbombe so, dass sich sich unter dem Suchwort #goebombe "jeder Schritt von Evakuierung bis Desaster bei Twitter mitlesen" (@DeMorpheus) ließ.

Unter Gesichtspunkten der Medien-Entwicklung interessant: Ebenfalls vermutlich erstmals informierte der Internetauftritt einer klassischen Papierzeitung, der der Nordwest-Zeitung aus Oldenburg (auch in Niedersachsen, aber ziemlich weit entfernt von Göttingen), seine Onlineleser mit den Worten "Aktuelle Informationen zum Thema gibt es bei Twitter über das Hashtag #Goebombe".

Was immer man vom Gatekeeping der vierten Gewalt grundsätzlich hält: In puncto News hatte nwz-inside.de da auch völlig recht. Allerdings, à propos und unter Medien-Gesichtspunkten auch lesenswert: der Text "Wie ich auf twitter mit einer Falschmeldung für Verwirrung sorgte" des Bloggers derausmwaldkam, der mit den Worten "Wenn demnächst mal wieder was passiert, dann lese ich das lieber am nächsten Tag irgendwo gescheit, selbst Nachrichten schreiben ist doch gefährlicher, als man denkt", endet.

Kurz zur historischen Einordnung: Die Bombe, die drei Menschen das Leben nahm, stammt aus dem letzten Krieg auf deutschem Boden, der 65 Jahre zurück liegt. Im aktuellen, nicht immer so genannten Krieg mit deutscher Beteilung, der zum Glück völlig woanders stattfindet, gab vor wenigen Tagen das damalige deutsche Staatsoberhaupt ein Interview, dessen Nach- und Nachnachwirkungen die Medien noch immer breit beschäftigen. Damit also zu Horst Köhler.

Über die Köhlerkrise wird natürlich alles Mögliche geschrieben, nur zum Beispiel, dass wir jetzt erst ahnen, was das seit Langem gebrauchte Wort "Krise" bedeutet (Brigitte Fehrle, BLZ), nur z.B. dass es sich beim "Respekt", den Köhler einforderte, um ein "Loser-Wort" handelt (Tagesspiegel unter Berufung auf Kevin-Prince Boateng).

Unter medialen Aspekten interesssiert besonders das Medium, dem der Präsident das folgenreich Interview gab - der Deutschlandfunk, der gemeinsam mit Deutschlandradio Kultur eine komplexe Einheit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks bildet

Direkt mit dem Kollegen sprechen, der das Interview führte, wollte Daniel Bouhs (FR/ BLZ). Und war dann "enttäuscht: Deutschlandradio Kultur schirmt seinen Reporter Christopher Ricke fleißig ab." Insofern sprach er offenbar mit Petra Diroll vom Bayerischen Rundfunk, die eigentlich gestern als neue Sprecherin des Bundespräsidenten starten sollte, aber, "aus heiterem Himmel" getroffen, das nun wohl nicht mehr tun wird (siehe auch Tsp. gestern, mit passendem Foto).

Der Tagesspiegel fragte nun Deutschlandfunk-Chefredakteur Stephan Detjen kurz, warum denn die umstrittene Aussage Köhlers auf dem einen Sender gesendet wurde und auf dem anderen nicht (siehe Altpapier vom 25. Mai). Detjen spricht von "passender Sendelänge" und "zunächst nicht gesehener" Brisanz, sowie davon, dass "die Agenda des Deutschlandfunks in anderen Medien ...starke Beachtung findet" (während er in einem längeren DLF-Selbstinterview an eine andere "korrekturbedürftige, fragwürdige Äußerung, die wir von Horst Köhler gerade in letzter Zeit gehört haben", erinnert, die im Mai im DLF problematisiert wurde, "ohne dass sie von anderen Medien weiter aufgegriffen worden ist").

[listbox:title=Artikel des Tages[Twitter und Falschmeldungen (Blogger derausmwaldkam)##DLF-Reporter Ricken ist nicht zu sprechen (FR)##DLF-Chefredakteur Detjen spricht (DLF)##Intendant Steul auch (Carta)##Public Viewing als Gegenteil von Youtube (Tsp.)##Der Grand Prix-Faschismus (TAZ)##Döpfner gratuliert MRR (Welt)]]

Willi Steul schließlich, Intendant des Deutschlandradios, war gestern eigentlich ohne aktuellen Anlass im Berliner Institut für Medienpolitik zu Gast. Seine zentralen Aussagen zur Köhler-Causa liegen dank Carta bereits in Text und Bewegtbild vor und erstaunen nicht - Steul ist ein Amtsträger von der staatsmännischen Würde, an der es Horst Köhler vielleicht ein bisschen mangelte.

"Dass es zwei Versionen des Interviews gab, ist ein Lehrstück auch für uns intern, dass dies so nicht geht", sagte er. So kam er dann gestern auch auf die zentrale Lehre der Köhler-Causa zu sprechen, die inzwischen geradezu als "eine goldene Regel des Internets" (sueddeutsche.de) gilt, die vielleicht noch einmal rasch von der Enquete-Kommission "Internet und digitale Gesellschaft" durchgesprochen und dann aber wirklich jedem Politiker auf jeder Ebene auf dem Postwege zugesandt werden sollte: "Im Internet versendet sich nichts".

Das ist immerhin etwas, das Ursula von der Leyen, nach aktuellen Befürchtungen eine Topkandidatin für die Köhler-Nachfolge, schon weiß.
 


Altpapierkorb

In der Süddeutschen gibt es nun auch einen großen, ausgeruhten Überblick über Stefan Raabs bisheriges Lebenswerk unter besonderer Berücksichtigung des Lena-Erfolgs. +++ Im FAZ-Fernsehblog beginnt eine Übersicht über zwei Monate offiziell erlaubtes Product Placement im deutschen Fernsehen, die ebenfalls mit einem Beispiel aus einer Show mit Raab (der sich ja wg. Lena keineswegs aus dem Tages- und Samstagabendgeschäft zurückgezogen hatte) einsetzt. +++ Wiederum auf sueddeutsche.de rügt wegen Raab ein Gastbeitrag die "bedingungslose Kapitulation" der ARD "vor dem Entertainer aus dem Privatsystem" ("ungefähr so, als würde der FC Bayern nach Gewinn der Champions League dem FC St. Pauli die Lorbeeren und das Feiern überlassen"), der sich allerdings so verquer liest, als würde Heinz Klaus Mertes sich gern für die Horst-Köhler-Nachfolge ins Gespräch bringen wollen. +++ "Raab sollte aufpassen, dass er nicht seinem Nichtvorbild Ralph Siegel nacheifert", rät Michael Hanfeld (FAZ) knapp und besonnen. +++

+++Viel Marcel Reich Ranicki-Feierlichkeiten heute in allen Feuilletons. MRR sei "die Antwort auf die Frage, wie der Journalismus in der digitalen Welt überleben kann...", schreibt Mathias Döpfner (Welt). +++

+++  Der Süddeutschen gelingt es nicht, dem ehemaligen N24-Geschäftsführer Ulrich Ende, dem neuen Chef des gerade an einen englischen Teleshopping- und Pferderennkanal-Betreiber verkauften Senders "Das Vierte" präzisere Auskünfte über künftige Pläne zu entlocken, als dass es "neue, attraktive Programminhalte" geben soll (S. 17). +++

+++ Über die etwas merkwürdige Klage der Ex-Boxerin Regina Halmich gegen ein Filmporträt von ihr, weil das auch ins Kino kommen soll, berichten die SZ und frei online das (relaunchte) welt.de. +++ Nina Rehfeld hat für die FAZ (S. 34, derzeit nicht frei online) "den neuen Feminismus" gesehen: die US-amerikanische Fernsehserie "Drop Dead Diva2, die "den Kampf gegen den Körperkult aufnimmt" und hierzulande auf Sky zu sehen ist. +++ Den "Porno-Modus" im Internet abstellen? Einstellen? Wie's geht, steht hier (BLZ/ FR). +++

+++ TAZ und FAZ berichten etwas gelangweilt von der neues Wendung in Sachen Bunte vs. Stern vs. Bunte. +++ Der Tsp. lauschte einem universiträren Vortrag Franz Münteferings über dieses (die Bunte) und jenes (Köhler). +++

+++ Große Thesen zum Schluss: Public Viewing "ist der Gegenentwurf zum vereinzelten Filmchengucken auf Youtube" (Tagesspiegel). +++ "Dieser Grand-Prix-Faschismus ist die Rache der Schwulen für ihre systematische Ausgrenzung vom Fußball" (TAZ-Medienkriegsreporterin Silke Burmester).

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.